1. Startseite
  2. Sport
  3. Fußball

Ein Nährboden zum Wachsen

Erstellt: Aktualisiert:

Von: Jan Christian Müller

Kommentare

Duell auf Augenhöhe: Harry Kane (li.), Antonio Rüdiger.
Duell auf Augenhöhe: Harry Kane (li.), Antonio Rüdiger. © dpa

Die deutsche Nationalmannschaft sendet gegen England vermehrt Hinweise, dem Mittelmaß womöglich bald entkommen zu können – sie muss aber noch abgezockter werden.

Der Abend war schon alt, als Antonio Rüdiger sich als letzter deutscher Spieler Richtung Mannschaftsbus vor die Münchner Arena begab - und kurz vor Erreichen seines Ziels noch von einem Bündel englischer Hauptstadtreporter aufgehalten wurde. Man kennt sich aus Chelsea, Südlondon. Rüdiger, bald abgängig Richtung Real Madrid, nutzte die Zusammenkunft, in respektablem Englisch ein Füllhorn an Lob über den Gegner des Abends zu schütten. Der Verteidiger, einer der Besten seines Teams, hatte am Ende auch nicht verhindern können, dass eine leidenschaftliche deutsche Mannschaft von den englischen Angriffswellen systematisch unterspült wurde, ehe kurz vor Schluss der 1:1-Ausgleich fiel. Harry Kane, die Kante himself verwandelte per Strafstoß mit ungnädiger Coolness.

Für die Nations League, in der sich das DFB-Team gerade abwechselnd mal träge, mal fix bewegt, heißt das vor dem Spiel am Samstag (20.45 Uhr/RTL) in Ungarn: Deutschland ist Mittelmaß. Dritter Gruppenplatz hinter Italien und Ungarn. Zweimal 1:1 - einmal nach bescheidener Vorstellung in Italien, einmal nach respektabler Leistung gegen England - ganz schlau werden sie gerade selber nicht aus sich.

Ilkay Gündogan zum Beispiel auch nicht, obwohl der gegen England auffällige Mittelfeldspieler sicher ein kluger Kopf ist. Gündogan haderte sichtlich mit dem späten Ausgleich, denn: „Es wäre für uns als Mannschaft ein wichtiges Statement gewesen, wenn wir die Engländer geschlagen hätten.“ Als der 31-Jährige in der wegen der Pandemie erstmals seit zweieinhalb Jahren vom DFB wieder geöffneten Mixed Zone mit den Medien sprach, huschte Jack Grealish mit breitem Grinsen hinter ihm vorbei. Der kaum zu fassende englische Linksaußen hatte dem Spiel nach seiner Einwechslung eine neue Statik verpasst - die Deutschen fanden keine Lösung, den Irrwisch zu stoppen. Gündogan rät künftig zu bewährten Hausmitteln aus der Mottenkiste des Profifußballs: „Cooler bleiben, Ball besser halten, auch mal Zeit schinden, auch mal auf dem Boden liegen bleiben. Die abgezocktesten Mannschaften machen das.“

Aber abgezockt ist dieses deutsche Team in dieser Formation noch nicht. Gerade jene Spieler wie Nico Schlotterbeck und Jamal Musiala, deren Frische für Freude im Publikum sorgt, sind auch diejenigen, deren Unreife regelmäßig zu Unruhe führt. So kam es nicht von ungefähr, dass Schlotterbeck in seinem dritten Länderspiel bereits den zweiten Strafstoß verursachte, jedes Mal in der Schlussphase, wenn die Konzentration nachlässt. Der Schiedsrichter erklärte den deutschen Spielern und Trainer Hansi Flick die Kollision Schlotterbecks mit Kane später als „stupid contact“, als „dummen Kontakt“. Und doch sind besonders Schlotterbeck und Musiala - gemeinsam mit dem kraftstrotzenden Linksverteidiger David Raum - jene jungen deutschen Burschen, die unter Flick die größten Entwicklungsschritte nach vorn gemacht haben.

Es gibt sicher ein paar gute Gründe, an diesem Kunst-Wettbewerb Nations League herumzumäkeln. Eine Pause im Juni würde dem einen oder anderen etablierten Profi sicher ganz gut tun. Für noch weniger profiliertere Spieler bietet sie aber einen Nährboden zu wachsen. Spiele auf diesem Niveau treiben bei Männern wie Schlotterbeck, 22, Musiala, 19, und Raum, 24, den Reifeprozess. Der sollte bestenfalls darin münden, stets das richtige Maß aus Risikominimierung gerade in der Nähe des eigenen Strafraums und Unbeschwertheit im Vorwärtsdrang zu finden. Die Weltmeisterschaft in diesem Jahr wurde von der Fifa ja dankenswerterweise auf den Winter verlegt. Es bleibt also noch ein bisschen Zeit zu reifen.

Einer wie Schlotterbeck ist ohnehin nicht der Typ, den eine Minus-Erfahrung wie gegen England großartig bekümmern würde. Frisch geduscht und frisiert erschien der künftige Dortmunder recht entspannt lächelnd im Interviewbereich, legte dabei allerdings ein Schritttempo vor, das keinen andere Schluss zuließ: Der Kerl hat keinen Bock zu sprechen. Was Schlotterbeck auf Anfrage postwendend bestätigte: „Nein, auf gar keinen Fall.“ Vielleicht ist Verdrängung in einem solchen Moment sogar ein kundiger Ratgeber. Hansi Flick findet das bisweilen jedenfalls gut: „Wenn er Fehler macht, was passieren kann, macht er einfach weiter. Das brauchen wir,“

Die Videoanalysten werden den Aufsteiger der Saison in den Schulungen schon noch ausreichend darauf hinweisen, wie er sich in solchen Situationen gegen einen robusten Weltklassemann wie Kane klüger verhalten könnte. Und am Ende müssen sie sich alle miteinander ja auch eingestehen: Sie waren in der Schlussphase nicht stabil genug gewesen, die Engländer vom Strafraum fernzuhalten. Das 1:1 war viel mehr logische Folge mangelnder Fähigkeit zur Gegenwehr in einer Phase, als es besonders drauf ankam, als Resultat einer unglücklichen Karambolage. Fußball kann manchmal sogar gerecht sein.

Auch interessant

Kommentare