Die neue Ehrlichkeit beim FC Bayern

In München wird vor dem Champions League-Spiel gegen Paris Tacheles geredet, um Defizite aufzudecken.
Der Schatten, den das Duell mit PSG vorausgeworfen hat, war lang, sehr lang. 99 Tage nach der Auslosung der Achtelfinal-Partien in der Champions League hat der FC Bayern seinen Ausflug nach Paris mit einem knappen, aber verdienten 1:0 garnieren können, 22 Tage später kommt es am Mittwoch (21 Uhr, Dazn) zum entscheidenden Rückspiel. Die Vorbereitungszeit auf das zweite Duell war vergleichsweise kurz – und trotzdem ist der FC Bayern aus dem Februar ein anderer als jener, der Paris nun mit breiter Brust empfängt. Hinter den Kulissen ist viel passiert. Und das neue Erfolgsgeheimnis lautet: schonungslose Ehrlichkeit.
„Am Ende ist es wichtig, dass die Entscheidung, wo es hingeht auf dem Feld, auch aus der Mannschaft rauskommt“, sagte Julian Nagelsmann jüngst – und gab damit einen Einblick in den Prozess, der den Rekordmeister seit dem Stotterstart ins Fußballjahr beschäftigt. Leistungen auf dem Feld und Nebenkriegsschauplätze mögen vielleicht nicht unmittelbar zusammenhängen. Dass beides zusammen aber zu einer toxischen Mischung werden kann, hat man zu Beginn der Rückrunde festgestellt. Vor allem die Führungsspieler um Thomas Müller, Joshua Kimmich und Leon Goretzka haben daher die Initiative ergriffen und das Mannschaftsklima zur Chefsache gemacht. Zu groß waren die Differenzen zu den großen Themen wie Paris-Trips, Torwarttrainer-Entlassungen und Kabinen-Ausraster.
Das neue Motto hört sich simpel an: Alle sollen an einem Strang ziehen, Kritik ist aber explizit erlaubt. Man hält es da mit Nagelsmann, der sagt: „Im Miteinander ist die mangelnde Ehrlichkeit oft ein hemmender Faktor, um maximalen Erfolg zu haben.“ Es wird derzeit viel geredet an der Säbener Straße, deutlich mehr als in den ersten Wochen nach der WM-Unterbrechung. Und es wird „offen und ehrlich“ gesprochen, was der Trainer für „sehr wichtig“ erachtet. Die Fähigkeit, auch mit negativem Feedback von Kollegen umgehen zu können, schreibt der 35-Jährige „vielen gestandenen Spielern“ zu. Und der Coach weiß nur zu gut, dass ein funktionierendes Team auch seine Arbeit erleichtert.
„Du als Trainer kannst schon Input liefern. Aber wichtig ist, dass die Schritte aus der Mannschaft kommen“, sagte Nagelsmann. Der Teamabend im Forsthaus Wörnbrunn war da das beste Beispiel, aber auch der wieder eingeführte Strafenkatalog sowie die Rollenverteilung bei Trainingsspielchen – die Verlierer putzen Kabine und Schuhe der Gewinner – fallen unter den neu eingeschlagenen Weg.
In einem Kader, dessen Marktwert bei knapp einer Milliarde Euro liegt, gibt es genug Eitelkeiten und Reibungspunkte. Wenn aber das Drumherum stimmt, ist zumindest die Grundlage für offene Kommunikation gegeben. Nagelsmann fasste es wie folgt zusammen: „Ein ernstes Gespräch ist einer lockeren Atmosphäre ist besser, als eine ernste Atmosphäre zu haben und zu versuchen, ein lockeres Gespräch zu führen. Das haben die Jungs sehr gut umgesetzt.“
Vor allem Müller ist alles, was da so passiert ist, gehörig gegen den Strich gegangen. Es ist kein Zufall, dass Nagelsmann die Wichtigkeit des derzeitigen Kapitäns zuletzt mehrfach und intensiv betont hat. Der 33--Jährige weiß, dass ein guter Teamspirit Grundvoraussetzung für große Titel ist. So wie 2013, so wie auch 2020. Und er betonte daher zuletzt auch mehrfach öffentlich: „Wir tun gut daran, weniger übereinander, sondern mehr miteinander zu reden.“
Das Ergebnis der schonungslosen Ehrlichkeit soll Paris am morgigen Mittwoch zu spüren bekommen. Müller versicherte: „Wir sind richtig gierig.“ Er meinte damit nicht nur sich, sondern alle. Versichert in x-Gesprächen.