Die Nagelsmann-Doktrin

Der neue Welttrainer Lionel Scaloni adelt den Bayern-Coach. Der hat seine Trainingsmethoden angepasst, um die Spieler nicht zu sehr zu überfordern.
Welttrainer und der FC Bayern, das ist so eine Sache. Im Jahr 2020, als bei der Verleihung des Fifa-Awards Jürgen Klopp ausgezeichnet wurde, musste selbst der nicht allzu leicht aus der Fassung zu bringende Hansi Flick die Nase rümpfen. Die Wahl verstand niemand, und, ja, auch dem eigentlich uneitlen Sechs-Titel-Trainer hing das ungerechte Ergebnis mehr als ein paar Tage nach. Am Montag konnte man da aus München entspannter nach Paris blicken, wo Lionel Scaloni am Montag ausgezeichnet wurde – und Julian Nagelsmann aus gutem Grund keine Rolle spielte. Und sich freuen, dass der Bayern-Trainer trotzdem Gesprächsthema war.
„Er ist ein großartiger Trainer. Wir verfolgen seine Arbeit mit großem Interesse“, verriet Argentiniens Weltmeistertrainer Scaloni nämlich in der Stunde seines Erfolges bei Sky. Regelmäßig, sogar „oft“ verfolgt der 44-Jährige laut Selbstauskunft die Einheiten aus München: „Uns gefällt die Art, wie er trainieren lässt“. Irgendwann, hoffe der derzeit offiziell Beste seiner Zunft, könne er Nagelsmann „persönlich treffen“. Wenn man da Scaloni so reden hörte, konnte man fast meinen, er adle eine Ikone, garniert mit Legendenstatus und doppeltem Sternchen.
Tatsächlich hat Nagelsmann seinen eigenen Ansatz; etabliert in Hoffenheim, weiterentwickelt in Leipzig, nach Perfektion strebend in München. Der 35-Jährige weiß genau, welche Inhalte er vermitteln will – und wie er dabei vorgeht. Trotzdem kommt es nicht selten vor, dass selbst diejenigen Spieler in seinem Kader, die die deutsche Sprache beherrschen und sich gerne in taktische Finessen eindenken, Probleme bei der Umsetzung haben.
De Ligt ist beeindruckt
Unter anderem Matthijs de Ligt stand zu Beginn nicht selten verdattert da, wenn sein neuer Coach Übungen erklärte. Der Abwehrboss legt Nagelsmann das aber nicht negativ aus – sondern sagt: „Mir gefällt die anspruchsvolle Art seines Trainings enorm gut, weil du die Beine, den Kopf und deine Mentalität trainierst.“ Ähnlich sehen es viele verdiente Spieler – wobei der Grad zur Überforderung schmal ist.
Nagelsmann legt Wert auf Abwechslung, hat sich aber in dieser Saison angepasst. So splittet er komplexe Übungen inzwischen gerne in mehrere Einzelteile, um seine Idee Stück für Stück nahezubringen. Dass die Einheiten anspruchsvoll sind, erinnert an Trainings, die Pep Guardiola zwischen 2013 und 2016 in München angeleitet hat. Dass Spieler grundlegende Dinge – wie etwa den Pass in den richtigen Fuß – im Schlaf beherrschen, war für den Katalanen und seine Idee des Ballbesitzfußballs essenziell. Nagelsmann will vielmehr flexibel auf verschiedene gegnerische Formationen reagieren können.
Dass er dabei auf deutlich mehr technische Hilfsmittel setzt als andere Trainer, ist kein Geheimnis. Die Live-Überwachung der Fitnesswerte ist da nur ein kleiner Baustein. Wichtig ist ihm die Überwachung des Trainings aus allen Perspektiven. Video-Wall, Trainer-Balkon und extra installierte Kameras sind Hilfsmittel, die er eingeführt hat – und die man ihm gerne zugesteht. Vorausgesetzt, das Training führt zum Erfolg.
Den Beweis muss Nagelsmann in den kommenden heißen Wochen erbringen. Daher besann er sich trotz moderner Ansichten zuletzt auf die Basics des Trainerdaseins. In einer internen Sitzung schwor er die Mannschaft schon vor der Partie gegen Union auf Hunger, Siegeswillen und Spielfreude ein. Gute Trainer – unter anderem Scaloni – wissen: Ein funktionierendes Team ist wichtiger als eine bis ins Detail ausgetüftelte Taktik.