Der Zeitzeuge

Torwart Ralf Fährmann weiß als einziger Schalker, wie sich ein Derbysieg gegen Borussia Dortmund anfühlt.
Wenn 99 solcher prestigeträchtigen Paarungen in der Fußball-Bundesliga gespielt sind und nun die Nummer 100 bevorsteht, die Rede ist vom Revierderby Borussia Dortmund gegen den FC Schalke 04 (Samstag 18.30 Uhr), dann ist die Rückschau auf die Historie unvermeidlich. Vorweg: 37 Mal gewann der BVB, 32 Mal S04. Torverhältnis: 159:137. Die meisten Treffer zu diesem Schlager steuerte ein gewisser Lothar Emmerich (zehn) bei, die meisten Einsätze (24) teilen sich Roman Weidenfeller (Dortmund) und Klaus Fichtel (Schalke).
Das spektakulärste Spiel? Wohl jenes 4:4 aus dem November 2017, als die Knappen sich von einem 0:4-Rückstand im Dortmunder Hexenkessel nicht schocken ließen. Unvergessen auch, wie 20 Jahre zuvor mal ein junger Keeper namens Jens Lehmann für Schalke traf. 2:2 nach einer Ecke. Kurz vor Schluss schien erst der Torhüter, dann seine Mitspieler zu explodieren. Als erster Ballfänger der Bundesliga-Geschichte hatte Lehmann aus dem Spiel heraus getroffen.
Ein Jahr später hütete der hochbegabte Schlaks unter der Latte übrigens nicht mehr das königsblaue, sondern das schwarz-gelbe Gehäuse. Womit die Brücke in die Gegenwart geschlagen ist: Mag es sich bei Fußballprofis im Jahre 2023 zu 99 Prozent um Söldner handeln, so ist der aktuelle Schalker Torwart Ralf Fährmann über jeden Verdacht erhaben, einen solchen Seitenwechsel jemals zu tätigen. Zwar gebürtiger Sachse, aber der 34-Jährige ist Schalker durch und durch. Seit zwei Jahrzehnten in Gelsenkirchen sesshaft.
Dass er zwischendrin auch mal für Eintracht Frankfurt spielte – zwischen 2009 und 2011 – haben abseits der SGE-Gemeinde die meisten Fußballfans schon vergessen. Fährmann kehrte zu Schalke zurück, als die Eintracht trotz eines eilig installierten Nothelfers Christoph Daum abstieg. Der hatte übrigens wieder Fährmann - anstelle von Oka Nikolov - aufgestellt. Nutzte aber nichts mehr.
Es gehört zu den statistischen Kuriositäten vor der Jubiläumsauflage, dass es sich beim neuerdings gelockten „Ralle“ tatsächlich um den einzigen Schalker Protagonisten handelt, der weiß, wie sich solch ein Derbysieg anfühlt. Insgesamt sogar dreimal in zwölf Derbys – zuletzt im April 2018 mit 2:0. Dieser Klassiker ist nunmehr sein 225. Bundesligaspiel.
Zum Vergleich: Der aktuell verletzte Ex-Schalker und Nationalmannschaftskapitän Manuel Neuer steht bei 478 Einsätzen im deutschen Oberhaus. Bei Fährmann war es – Verbundenheit zum Arbeitgeber hin oder her – ein ständiges Auf und Ab. Der Stammplatz auf Schalke war bei ihm über all die Jahre nie betoniert. Insgesamt ist er zum Rückrundenauftakt gegen den 1. FC Köln zum neunten Mal zwischen die Pfosten zurückgekehrt. Vorgänger Alexander Schwolow hatte zwar nicht in Serie danebengegriffen, aber eben auch nicht ohne Vorbehalte überzeugt.
Dass er unter Thomas Reis als seinem insgesamt 19. Trainer auf Schalke noch mal befördert wurde, ist überraschender als jemals zuvor. Reis hatte ihn nach der 1:6-Heimpleite gegen RB Leipzig aus der Versenkung geholt, weil er „was verändern“ wollte. Also stand auf einmal wieder ein altbekanntes Gesicht im Tor, der über eine Ausstrahlung verfügt, die bis auf die Ränge reicht.
Dass sich die Deckung parallel mit der Verpflichtung des Innenverteidigers Moritz Jenz stabilisierte, muss unbedingt erwähnt werden, denn die vielen Nullnummern mit der Fährmann-Rückholaktion hatten mehr mit dem neuen Abwehrchef als dem alten Stammkeeper zu tun, der nach einem 2:1-Arbeitssieg gegen den VfB Stuttgart im ZDF über seine jüngere Vergangenheit sagte: „Es wurde viel rotiert. Ich war ab und zu verletzt, was mich aus dem Tor geworfen hat. Es gab Entscheidungen gegen mich. Ich sage immer meine Meinung, mal wird mir das negativ ausgelegt. Aber ich habe mich nie verstellt.“
Mit ihm hat der Klub in sechs Spielen nicht mehr verloren, den Rückstand aufgeholt und nur ein Gegentor kassiert – ausgerechnet nach einem kapitalen Fährmann-Fehler. „Ich habe das Glück, dass ich schon viele Jahre Erfahrung auf Schalke habe. Man weiß ja, dass hier mehr Druck herrscht, weil so viel Leidenschaft im Spiel ist.“
Das gilt insbesondere für das Derby. Dass vor diesem Spiel zwischen Dortmund (Zweiter) und Schalke (Vorletzter) 15 Plätze lagen, gab es noch nie. Einerseits. Andererseits sind nur diese beiden Klubs in der Rückrunde noch ohne Niederlage. Es kündigt sich ein erbittertes Ringen an. Wie immer, wenn sich diese beiden Rivalen duellieren. mit sid