„Das Lagerfeuer ist erkaltet“

Ex-Bundesligamanager Andreas Rettig über seine verblassende Liebe zum Fußball und seine Forderung: „Wir müssen der Premier League nicht nacheifern“.
Herr Rettig, schauen Sie noch gerne Champions League?
Ich stelle seit Jahren bei mir ein nachlassendes emotionales Interesse an den Hochglanzspielen dieser aufgeblasenen Wettbewerbe fest – und denke, dass ich diese Meinung nicht exklusiv habe. Mich nimmt das nicht mehr mit. Gleichgültigkeit ist schon die nächste Stufe, die Wut habe ich überwunden (lacht). Wenn Gier und Sportswashing der Antrieb sind, bleibt die Fußball-Liebe auf der Strecke.
In der Branche oder am Stammtisch?
In der Fan-Community. Das Ganze hat sich durch die WM in Katar nur verstärkt. Das mangelnde Interesse, die Tatsache, dass die Leute die emotionale Nähe nicht mehr verspüren, die von Oliver Bierhoff hochbeschworene Lagerfeuerromantik nicht greift – das sehe ich immer mehr. Das Lagerfeuer ist erkaltet.
Der Fußball steht in vielerlei Hinsicht am Scheideweg. Was macht Ihnen denn mit Blick auf Deutschland mehr Bauchschmerzen: Das finanzielle Ungleichgewicht in der Liga – oder das finanzielle Ungleichgewicht deutscher Klubs im internationalen Vergleich?
Ich leide etwas mehr beim Brot- und Buttergeschäft des nationalen Fußballs. Weil das letztlich die Keimzelle von allem ist. Ich habe deshalb auch nie die Argumente der international ausgerichteten Klubs verstanden, die sich hinter der Wettbewerbsfähigkeit in Europa versteckt haben. Nach dem Motto: Wir wären ja gerne solidarisch, aber wir können nicht, weil der Wettbewerb uns treibt. Das halte ich für einen Unsinn!
Die Bayern aber sind national enteilt – und sollen international mithalten. Stehen sie sinnbildlich für die „Misere“?
Der FC Bayern hat sich durch gute Arbeit, Unterstützung der Politik, einen unsolidarischen Verteilerschlüssel, aber auch durch unlauteres Verhalten – hier sei an die Kirch-Millionen erinnert – in diese Position gebracht. Aber Sie können in keinen Wettstreit gegen Oligarchen und Staatsfonds eintreten, wenn Sie wirtschaftlich vernünftig haushalten wollen. Den kann man nämlich gar nicht gewinnen. Ein Neymar würde auch für 250 Millionen Euro nicht zum FC Bayern wechseln – denn dann zahlt der Katari halt 300 Millionen Euro. Dieses wirtschaftlich ruinöses Rattenrennen zu legitimieren, ist eindeutig der falsche Weg.
Steckt der Fußball da in einer Sackgasse?
Wenn wir nicht gegensteuern, wird er in einer Sackgasse landen. Aber es muss doch jedem nach der WM in Katar bewusstwerden, dass es hier schon lange nicht mehr um den Sport geht. Es geht um Missbrauch des Sports für politische Zwecke. Da haben sich ja nun alle demaskiert. Früher hatten wir im Sport den Ost-West-Konflikt. Jetzt haben wir den Wettstreit demokratischer gegen autokratische Systeme. Dieser wird auf dem Rücken des Sports – nicht nur des Fußballs – ausgetragen. Da schaue ich nach Katar, aber zum Beispiel auch auf Saudi-Arabien.
Sie haben vor nicht allzu langer Zeit Uli Hoeneß als „Katar-Lobbyisten“ bezeichnet. Hat sich an dieser Meinung etwas geändert?
Nein. Aber ich habe ja nicht nur mit Uli Hoeneß ein Streitgespräch geführt, sondern mit all denen, die sich neben dem FC Bayern als Katar-Lobbyisten missbrauchen lassen. Es muss doch klar sein, dass wir eine größere Konsequenz an den Tag legen müssen. Wir müssen Nein sagen! Denn es ist ein Märchen zu glauben, dass der Sport zu gesellschaftlichen Veränderungen in dem jeweiligen Land führen kann. Es können nur Zivilgesellschaften zu Veränderungen kommen.
Das Argument ist stets, den Blick auf diese Länder zu richten.
Und da bin ich komplett anderer Meinung. Der Druck auf die Zivilgesellschaft wird ein ganz anderer, wenn der Zirkus des Sports an den autokratischen Ländern vorbeimarschiert, gar nicht mehr Halt macht. Dann nämlich wird von innen heraus gefragt: Warum ist das plötzlich so? Das ist deutlich besser, als dem Ruf des Geldes zu folgen, sich kaufen zu lassen, um die Gesellschaft autokratischer Staaten zufriedenzustellen.
Sind Sie grundsätzlich gegen Investoren?
Wir haben ja Investoren. Damit da kein falscher Eindruck entsteht: Ich bin jetzt nicht der gefühlsduselige Romantiker, der der Zeit hinterhertrauert, in der noch mit Lederball gespielt wurde. Investoren sind herzlich willkommen, die sollen auch alle schön in Deutschland investieren. Aber ich verteidige vehement 50+1, denn diese Regel sichert die historischen, sozialen und kulturellen Wurzeln des deutschen Fußballs. Wenn ein Investor sich in diesem System engagieren will: herzlich gerne. Aber sowohl Investoren als auch Fans müssen begreifen, dass der Fußball anders als die Real-Wirtschaft ist. Nicht jedes Wirtschaftsprinzip ist 1:1 auf den Profi-Fußball übertragbar. Deswegen brauchen wir eigene Spielregeln.
Zur Person
Andreas Rettig gehört zu den schärften Kritikern der Entwicklungen im Profifußball. Der ehemalige Bundesligamanager (Freiburg, Augsburg, Köln, St. Pauli) verließ die Deutsche Fußball-Liga (DFL) Anfang 2015 bereits nach zwei Jahren auch, weil sich eine gedeihliche Arbeitsatmosphäre mit dem damaligen DFL-Chef Christian Seifert nicht entwickelt hatte. Nach nur einem Jahr beim Drittligisten Viktoria Köln ist der 59-Jährige derzeit ohne Job. FR
Lohnt sich das Festhalten an Prinzipien und Werten?
Wenn wir uns nicht mehr für Haltungsfragen interessieren, wird es düster. In Deutschland werden Begeisterung, Werte des Fußballs, Tradition von Generation zu Generation übertragen. In unserem Land hat der Fußball eine andere historische Verankerung, da wird in anderen Ligen anders mit umgegangen. Wir müssen anderen nicht nacheifern.
Sie meinen, die Premier League?
Ich habe schon zu meinen Zeiten in der DFL gesagt: Ich verstehe nicht, warum wir die Premier League derart glorifizieren. Es hieß immer, wir müssen da eine Lücke schließen. Da frage ich: Warum? Dass dort mehr Umsatz erzielt wird, ist für mich ein schwaches Argument – unter den fünf umsatzstärksten Vereinen Europas ist auch der FC Barcelona, der hoch verschuldet ist. Ich frage mich, warum wir nicht schon viel früher angefangen haben, eine andere DNA zu leben. Unsere Parole sollte sein: Wir wollen die sozialste, die nachhaltigste und bodenständigste Liga werden.
Salopp gesagt: Ist das noch „in“?
Und wie! Das würde einen Selbsterhaltungstrieb entwickeln. Der Generation Z, den unter 23-Jährigen, können Sie nicht mehr mit Gold-Steaks imponieren. Die wollen anders mitgenommen werden. Manchmal muss man umdenken. Wie zum Beispiel im Jahr 2000, als der Fußball am Boden lag – und wir massiv in den Nachwuchs investiert haben. Ich hatte von 2000 bis 2006 den Vorsitz der Kommission inne, die die Pflicht zur Unterhaltung eines Nachwuchsleistungszentrums zur Lizenzvoraussetzung machte. Da haben wir den Turnaround auch mit Maßnahmen geschafft, die anfangs nicht allen geschmeckt haben. Auch Themen der Nachhaltigkeit sollten verpflichtend als scharfes Schwert in der Lizenzierung verankert werden. Das würde zu gravierenden Verbesserungen fühlen.
In England gibt ein Klub mehr als 300 Millionen Euro im Winter aus – in Deutschland nicht alle zusammen. Sagt das nicht alles?
Das zeigt, wie wichtig die 50+1-Regel ist. Noch mal: Wir müssen der Premier League nicht nacheifern!
Wann gibt es beim FC Bayern den ersten 100-Mio-Euro-Transfer?
Wenn die Inflation weiter so steigt, sicher bald (lacht). Spaß beiseite: Irgendwann wird es kommen. Ob ich es noch erlebe, weiß ich nicht.
Können die Bayern bei großen Namen mit ihrem Namen, ihren Werten, ihrer DNA noch punkten?
Das entscheidet leider oft der provisionsorientierte Berater. Aber ich glaube trotzdem, dass diese Werte noch ankommen. Ich habe auch mit Freude beobachtet, wie schnell der erste Anlauf für eine Super League in sich zusammengefallen ist, als die Politik in England klargemacht hat, nicht mitzumachen.
Sie appellieren also an die Politik?
Ja, und zwar laut! Die Selbstheilungskräfte des Fußballs werden nicht ausreichen. Die Politik muss einen Rahmen vorgeben, damit dieser Irrsinn mal aufhört. In England gibt es diese Signale. Das freut mich sehr.