Das große Kopfzerbrechen

Beim Medizinkongress der Uefa in Frankfurt sorgt das Thema Spätfolgen von Kopfbällen und Kopfverletzungen im Fußball für Gesprächsstoff.
Viel los auf der alten Frankfurter Galopprennbahn: Nicht weniger als 384 Mediziner und Medizinerinnen aus der ganzen Welt treffen sich in diesen Tagen auf dem Campus des Deutschen Fußball-Bundes zum medizinischen Symposium der Europäischen Fußball-Union Uefa. Eines der zentralen Themen: die Auswirkungen von Kopfbällen und Kopfverletzungen im Fußball.
„Wissenschaft kann auch mal wehtun“, sagt der Chefmediziner der Europameisterschaft 2024, der Saarbrücker Professor Tim Meyer. Und sie kann gleichzeitig Schutz bieten. Etwa Schutz für die Gehirne von Fußballspieler:innen. Das Thema hat 2019 ein breite Öffentlichkeit erreicht, nachdem eine Forschungsgruppe der Universität Glasgow ihre Studienergebnisse veröffentlichte. Danach versterben Fußballer rund dreimal häufiger als der Bevölkerungsschnitt an Demenz.
Vor allem Eltern von fußballspielenden Kindern sind entsprechend verunsichert. Im Jugendfußball auf der britischen Insel ist Kopfballspiel im Training für Kinder unter zwölf Jahren inzwischen komplett untersagt. In Deutschland nicht. Denn, so Professor Meyer, Vorsitzender der Medizinischen Kommission des DFB.: „Es ist nicht so, dass es nur einen Weg der Konsequenz aus der Glasgow-Studie gibt.“
Der DFB hat auf seinem Bundesjugendtag vor einem Jahr verschiedene Maßnahmen vorgestellt, die laut Meyer „unstrittig die Kopfballhäufigkeit deutlich runtersetzen“. Das sei indes „lediglich eine Vorsichtsmaßnahme“, denn ein „kausaler Zusammenhang“ zwischen der Anzahl von Kopfbällen und Schäden fürs menschliche Gehirn sei trotz der Erkenntnisse aus Glasgow, wo die Todesursachen von rund 7700 schottischen Ex-Fußballprofis ausgewertet wurden, .aufgrund der derzeitigen Studienlage nicht nachweisbar.
„Man kann sich streiten, ob es gut ist, wenn Kopfbälle im Jugendfußball komplett eliminiert werden“, argumentiert der kürzlich nach zwei Jahrzehnten als Teamarzt der deutschen Nationalmannschaft zurückgetretene Meyer. „Ich denke, solange es Kopfballspiel im Erwachsenenalter gibt, muss man Jugendliche ja auch darauf vorbereiten. Man muss es nur auf eine risikoarme Art und Weise tun.“
Die Uefa hat Richtlinien veröffentlicht, an denen sich der DFB orientiert: kleine Bälle, mit niedrigem Balldruck, Minimierung des Kopfballspiels auch durch Spielformen auf Kleinfeldern, Stärkung der Nackenmuskulatur und der Kopfballtechnik, höhere Sensibilität beim Erkennen von Gehirnerschütterungen. „Wir wollen im Nachwuchsbereich achtsamer mit den Auswirkungen des Kopfballspiels umgehen. Wir setzen dabei gezielt auf nachhaltige Wirkung statt auf kurzfristige Verbote“, sagt Prof. Claus Reinsberger. Der Neurologe von der Uni Paderborn betreut in der Medizinischen Kommission des DFB das Fachthema „Kopfverletzungen beim Fußball“.
Einwirkungen auf Kopf und Gehirn sollten gleichwohl „nicht mehr bagatellisiert“ werden, ergänzt Tim Meyer. Die Beschlüsse von Uefa und DFB in Bezug auf das Kopfballspiel im Jugendalter müssten dringend flächendeckend in die Praxis umgesetzt werden. „Nur, weil das der Bundesjugendtag beschließt, ist das ja noch nicht in jedem Dorfverein angekommen. Das Maßnahmenbündel muss runtergebrochen werden.“ Das erfordere Zeit.
Meyer weist außerdem darauf hin, dass es in vielen Ländern „gar keine Maßnahmen“ gebe, um Kindern und Jugendlichen mehr Schutz vor Kopfbällen zu gewährleisten. „Das machen nur einige wenige Länder von 211 Fifa-Mitgliedern.“ Dabei handele es sich um entsprechend sensibilisierte Nationen, wo Sportarten sehr populär sind, bei denen es zu wesentlich stärkeren Kollisionen kommt, als das beim Fußball der Fall ist: Eishockey, American Football und Rugby. „In diesen Ländern ist die Problemwahrnehmung größer.“
Was Kopfverletzungen nach Kollisionen im Profifußball angeht, sieht Meyer eine gute Entwicklung zum Schutz der Spieler. „Wir können das an einigen oberflächlichen Zahlen sehen: Die Ausfallzeiten nach Kopfverletzungen werden länger.“ Das spräche dafür, dass das Bewusstsein für dieses Thema in den Klubs gestiegen sei.
Aber reicht das aus? Bei der Weltmeisterschaft in Katar setzte die Fifa gar sogenannte „Spotters“ ein, die mit einem Tablet auf der Tribüne nahe der Trainerbänke flächendeckend die Spiele verfolgten. Ihr Job: Sobald sie Kollisionen erkannten, die eine Kopfverletzung nach sich gezogen haben könnten, informierten sie die Teamärzte des betreffenden Teams. Meyer: „Diese Spotters sind sicherlich neutraler. Ob sie eine Kopfverletzung besser erkennen können als dies von der Bank aus der Fall ist, darf man sicher bezweifeln.“ Denn es gäbe derzeit noch keine konkrete Ausbildung zum Spotter.
In der Fußball-Bundesliga dürfte es in absehbarer Zeit nicht zum Einsatz der Spotter kommen, auch sogenannte „Tunnel Doctors“ dürften sich - anders als im American Football - im deutschen Profifußball wohl nicht durchsetzen. Dabei handelt es sich um neutrale Mediziner:innen mit neurologischer Ausbildung, die auch gegen die Mannschaftsärzte nach Kopfverletzungen entscheiden dürften, ob ein Spieler weiter am Spiel teilnehmen darf. „Das wollen die Mannschaftsärzte nicht“, berichtet Meyer und hat Verständnis: Es sei wichtig, einen Spieler bei der Diagnose einer Gehirnerschütterung persönlich zu kennen, zudem stünden Tunnel Doktoren genauso unter extremen Druck, „wenn sie in der 89. Minute entscheiden sollen, ob ein Spieler nicht weitermachen darf“.
Beim großen Uefa-Kongress in Frankfurt waren die Medien zum Vortrag von Prof. Claus Reinsberger zum Thema „Die Rolle von Kopfbällen auf das Gehirn“ nicht zugelassen. Zuletzt hat Reinsberger als Mitautor eine Studie veröffentlicht, die laut Selbstauskunft erstmals detaillierte epidemiologische Daten zu Kopfballduellen im Profifußball liefert. In 1244 Pflichtspielen der vier höchsten Ligen wurden mittels Videoanalyse 154 766 Kopfbälle gezählt und bewertet. Es ergab sich ein Mittelwert von 6,2 Kopfbällen pro Feldspieler und Begegnung. Nicht gerade wenig.
Die Autoren sind sich einig: „Kopfballduelle bergen ein hohes Risiko für Kopfverletzungen und sind daher ein wichtiges Ziel für Präventionsstrategien.“ Die Auswirkungen von Kopfbällen sollten in weiteren Studien hinsichtlich neurologischer Folgen kritisch untersucht werden, heißt es. Es gibt noch einiges zu tun.