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„Dachte, es kommen gleich Leute rein und erschießen uns“

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Von: Günter Klein

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Im Visier des Attentäters: der Mannschaftsbus von Borussia Dortmund.
Im Visier des Attentäters: der Mannschaftsbus von Borussia Dortmund. © imago/Nordphoto

Was der Anschlag auf den Mannschaftsbus von Borussia Dortmund mit dem Bayern-Herausforderer gemacht hat - und warum damals auch Thomas Tuchel gehen musste.

Borussia Dortmund, das diesen Samstag (18.30 Uhr/Sky) im Gipfeltreffen beim FC Bayern antritt, hat dieses Jahr eine realistische Chance, Deutscher Meister zu werden. Dass der BVB die Münchner lange nicht fordern konnte, lag an sportlichen und konzeptionellen Fehlern, die die Westfalen begingen – und einmal, 2017, spielte auch ein äußerer Umstand eine Rolle. Mannschaft und Verein wurden erschüttert von einem Akt ohne Beispiel: Auf das Team wurde am 11. April 2017 ein Sprengstoffattentat verübt, als es im Bus von Hotel L’Arrivée zum Stadion fahren wollte, um im Viertelfinale der Champions League gegen AS Monaco zu spielen. Ab dem 10. April wird dazu auf Sky Crime (und im Streamingdienst WOW) eine packende Dokumentation ausgestrahlt: „Der Anschlag“.

Sechs Jahre ist es bald her, dass der islamistische Terror in Deutschland wieder präsent zu sein schien. Das waren die ersten Gedanken, als die Nachrichten von den Explosionen dreier Sprengsätze an jenem Abend die Runde machten. Und die Spuren, die der Täter, Sergej W., gelegt hatte, ließen die Ermittler zunächst auch diesem Verdacht folgen. Es gab ein Bekennerschreiben „im Namen Allahs“ und im Wald beim Teamhotel eine Brandstelle, die vortäuschen sollte, dass mehrere Personen, die aus Belgien stammten, den Anschlag vorbereitet hätten. Doch Sergej W., einer russischen Aussiedlerfamilie entstammend, war Einzeltäter, er arbeitete in einem Energieunternehmen in Baden-Württemberg und hatte die Sprengsätze in seinen Nachtschichten gebaut. Und er hatte keine ideologischen Motive – er wollte ans große Geld.

Fan hilft bei der Aufklärung

Der Clou des gut 90-minütigen Films von Christian Twente (Regie) und Markus Brauckmann (Buch) liegt in der Auflösung der Rolle, die Rudolf Scheuchl spielt. Ein BVB-Fan schon älteren Baujahrs, er lebt in Bad Ischl in Österreich, und in den ersten Minuten der Dokumentation fragt man sich, warum die Autoren einen fernen Verehrer des Vereins, der am 11. April 2017 gar nicht in Dortmund war, ausführlich zu Wort kommen lassen. Er darf erzählen, was Schwarz-Gelb ihm bedeutet. Doch wichtig wird er, weil es ohne seine Aufmerksamkeit schwer geworden wäre, den Fall aufzuklären. Rudolf Scheuchl hat in Aktien investiert, er hält auch Wertpapiere von Borussia Dortmund, kennt sich mit komplizierteren Börsenprozessen aus – und ihm fiel auf, dass in Frankfurt am Attentatstag eine auffällig hohe Zahl an Put-Optionsscheinen auf die BVB-Aktie gehandelt worden war. Was heißt: „Jemand hat spekuliert, dass der Aktienkurs extrem und schnell einbricht.“ Der Gewinn hätte das 50-fache des Einsatzes (von 26 000 Euro, das erfuhr man später) betragen können. Scheuchs teilte seine Beobachtung der Polizei in Dortmund und dem Chefjustitiar des BVB mit. So kam man dem Täter auf die Schliche: Er hatte sich im Hotel L’Arrivée einquartiert, von dort (nachvollziehbar über die IP-Adresse) die Aktienorder getätigt.

Der Gewinn betrug letztlich nur 3300 Euro, da die Aktie sich kaum bewegte. Gegen 19.15 Uhr detonierte der Sprengsatz im Gebüsch, als der Bus das Hotel-Gelände gerade verlassen hatte. Von den Spielern wurde allein Marc Bartra verletzt, am Handgelenk. Ihn traf mit 175 Stundenkilometern einer der Metallstifte des Sprengsatzes; ohne das Glück einer Verpuffung wären die Geschosse mit 3000 Stundenkilometern unterwegs gewesen; dann hätte es Tote und Schwerverletzte geben können. Der Attentäter ging nach dem Anschlag im Hotelrestaurant ein Steak essen. Im Prozess sagte er, er habe die Mannschaft nur ein wenig erschrecken wollen. Nicht glaubhaft. Wegen 28-fach versuchten Mordes und schwerer Körperverletzung wurde er zu 14 Jahren Haft verurteilt.

BVB-Profis im Prozesssaal

„Der Anschlag“ ist nicht nur ein Kriminalfall, sondern auch eine psychologische Studie: Was macht ein solches Erlebnis mit den Opfern? Einige der Spieler von damals erzählen. Für Nuri Sahin bleibt „ein Geruch“ in Erinnerung: „Und ich dachte, es kommen gleich Leute rein und erschießen uns.“ Marc Bartra verspürte „einen heißen Luftzug im Gesicht“, Roman Weidenfeller spürte auch am Tag danach, als das Spiel neu angesetzt wurde, „ein mulmiges Gefühl, da man nicht wusste, wer der Täter ist“. Julian Weigl sagt: „Vergessen ist es nicht. Ich merke, wie es mich aufwühlt und ich mich an vieles erinnern kann.“ Spieler des BVB waren beim Prozess gegen Sergej W. im Saal, Matthias Ginter brach in Tränen aus. Nuri Sahin: „Ich hoffe, dass er es bereut und eine zweite Chance im Leben bekommt. Vielleicht ticke ich da anders – aber Rachegefühle, nee.“

Diskutiert wurde seinerzeit auch über die Gnadenlosigkeit des Fußballgeschäfts und den Druck von allen offiziellen Seiten, dass das Spiel am nächsten Tag stattzufinden habe. Watzke: „Es gab nur diese eine Wahrheit: Wir spielen oder ziehen zurück.“ Dortmund verlor das Spiel mit 2:3. Ob es klug gewesen wäre, nicht anzutreten? Spekulation, denn in diesem Falle hätte die Uefa das Spiel mit 0:3 zugunsten Monacos gewertet. Trotzdem: Weidenfeller „hatte das Gefühl, nicht bereit zu sein. Wir hatten aber die Verpflichtung, dem Terror Einhalt zu gebieten, und wollten Vorbilder sein.“

Der BVB gewann danach den DFB-Pokal. Bartra sollte sich später erinnern: „Ich realisierte, dass ich in sechs Wochen vom Krankenhausbett auf das Podium gelangt war. Es war das Comeback meines Lebens.“ Trotzdem war der Klub komplett aus der Spur geraten. Durch den Anschlag und seine Aufarbeitung „ist auch zwischen dem Trainer und mir einiges kaputtgegangen, es wäre sonst nicht zur Trennung gekommen“, sagt Aki Watzke. Er entließ Thomas Tuchel nach der Pokalfeier. Jetzt trifft er ihn in der Bundesliga wieder.

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