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SSC Neapel vor Meistertitel: Der Triumph der Armen

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Von: Dominik Straub

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Ehre, wem Ehre gebührt: Auf einem Altar in der Bar Nilo soll von Plexiglas geschützt eine Haarlocke Diego Maradonas ihren Platz gefunden haben.
Ehre, wem Ehre gebührt: Auf einem Altar in der Bar Nilo soll von Plexiglas geschützt eine Haarlocke Diego Maradonas ihren Platz gefunden haben. © prd/Dominik Straub

Der SSC Neapel kann am Wochenende den Meistertitel in der Serie A perfekt machen. Die chaotisch-schöne Stadt am Vesuv steht jetzt schon Kopf.

Abergläubisch zu sein, möge ein Zeichen von kultureller Rückständigkeit sein, räumen die Tifosi in Neapel ein. Aber nicht abergläubisch zu sein, bringe Unglück. Und deshalb hat man noch vor wenigen Wochen keinen neapolitanischen Tifoso gefunden, der gesagt hätte, die Meisterschaft der Serie A sei längst zur ihren Gunsten entschieden. Doch seit dem 1:0-Auswärtssieg gegen Juventus Turin am vergangenen Wochenende ist dies anders. „Die Sache ist gelaufen“, strahlt der Barkeeper Gennaro D’Andolfo aus der Bar Nilo.

Der SSC Neapel führt sieben Runden vor Schluss mit 17 Punkten Vorsprung auf Lazio Rom. Möglicherweise fällt bereits am Sonntag die endgültige Entscheidung: Falls Neapel gewinnt und die Römer auswärts gegen Inter Mailand nur unentschieden spielen oder verlieren, hätten die Süditaliener sechs Runden vor Saisonende mindestens 19 Punkte Vorsprung auf die Verfolger. Simple Mathematik, die jeden Aberglauben überflüssig machen würde.

Die Hafenstadt am Fuße des Vesuvs befindet sich seit Wochen in einem Zustand einer hoffnungsvollen und zugleich immer noch etwas ungläubigen Euphorie. Von praktisch jedem Balkon und von jeder Wäscheleine hängen Fahnen und Transparente in den Vereinsfarben hellblau und weiß; an jeder Ecke und an jeder Kreuzung lauern Straßenhändler mit Spielertrikots, Halstüchern, Wimpeln und anderen Fanartikeln. Im Herzen dieser verrückten Stadt, in der Via dei Tribunali, stehen alle paar Meter mannsgroße Pappfiguren der Spieler und des Trainers Luciano Spalletti, mit denen die Tifosi Selfies machen können. Auf vielen Plakaten steht bereits „Napoli – Campione d‘Italia 2022/2023“ oder einfach nur die Ziffer 3 auf hellblauem Grund: Weil es der dritte Scudetto der Vereinsgeschichte sein wird.

Fußball ist in ganz Italien eine Art Ersatzreligion – aber in Neapel hat der Calcio zusätzlich noch eine durchaus säkulare Bedeutung: Ein Meistertitel in der Serie A ist immer auch ein Triumph des armen, wirtschaftlich rückständigen Südens über den sieggewohnten, arroganten Norden. Juventus Turin und die beiden Mailänder Vereine AC Milan und Inter Mailand machen den Scudetto in der Regel unter sich aus – der letzte Klub, der diese Phalanx aufbrechen konnte, war die AS Roma in der Saison 2000/01.

Als Neapel im Jahr 1990 zum letzten Mal den Titel holte, verspotteten die norditalienischen Tifosi die Mannschaft als „afrikanischen Meister“. Das hat man in Neapel nicht vergessen. Auch nicht, dass Ligachef und AC-Milan-Fan Matteo Salvini vor einigen Jahren gesagt hatte, dass er hoffe, der Vesuv möge das Problem mit den Süditalienern irgendwann auf seine Weise erledigen. Der unsägliche Spruch hat in den Fankurven das Juventus-Stadions und im Mailänder San Siro derzeit wieder Hochkonjunktur. „Wir Neapolitaner und unsere Stadt werden vom Norden herabgewürdigt und diskriminiert, schon immer“, betont Paolo Esposito. „Der Scudetto ist deshalb eine enorme Genugtuung für alle Demütigungen und Beleidigungen.“

Der 37-Jährige Esposito lebt im Altstadtviertel Forcella und hält sich mit dem Verkauf von geschmuggelten Zigaretten über Wasser; das Paket kostet bei ihm zwei Euro. Forcella hat in den letzten Jahren einen bescheidenen Aufschwung erlebt; seit einigen Jahren wagen sich auch Touristen in das Quartier, das als Hochburg der Camorra gilt. Aber Forcella ist immer noch ärmlich, so wie viele andere Quartiere der Stadt es sind. Die Arbeitslosigkeit liegt bei über 30 Prozent. In der Provinz Neapel mit ihren zweieinhalb Millionen Einwohner:innen leben 420 000 Menschen vom staatlichen Bürgergeld. In der Lombardei mit viermal mehr Einwohner:innen sind es weniger als die Hälfte. Das Durchschnittseinkommen liegt in Neapel bei 14 000 Euro jährlich, in Mailand bei 34 000 Euro.

Die bisher einzigen Meisterpokale hatte der SSC 1987 und 1990 gewonnen – mit Superstar Diego Armando Maradona. Der Argentinier wird in Neapel immer noch verehrt wie ein Heiliger, und die wichtigste Maradona-Pilgerstätte in der Altstadt ist die oben erwähnte Bar Nilo an der Via San Biagio dei Librai.

In dem Lokal hat der Besitzer einen kleinen Altar aufgebaut, und sogar eine Reliquie ist vorhanden: In einem durchsichtigen Plastikwürfel befindet sich eine Haarlocke Maradonas, die er sich bei einem Besuch in der Bar angeblich hatte abschneiden lassen. „Maradona hat in Neapel den gleichen Status wie der offizielle Stadtheilige San Gennaro“, betont Barkeeper D’Andolfo. Für die Neapolitaner war Maradona einer von ihnen: Nach seinem ersten Meistertitel sagte er: „Ich habe nicht für Neapel und Argentinien gewonnen. Ich habe für diejenigen gewonnen, die sonst nie gewinnen.“

Der geniale, aber zugleich fragile und selbstzerstörerische Maradona und die schöne, aber zugleich chaotische und schwierige Stadt unter dem Vesuv waren eine Symbiose eingegangen, im Guten wie im Schlechten. Maradona pflegte in Neapel eine gefährliche Nähe zu einigen Bossen der Camorra, die ihn mit Kokain und Prostituierten versorgten. Neben den zwei historischen Meistertiteln hinterließ er in der Hafenstadt außerdem einen unehelichen Sohn, Diego Armando Junior, sowie Steuerschulden in Millionenhöhe.

Aber wenn es in Italien eine Stadt gibt, die solche Sünden nur allzu gerne vergibt, dann ist das Neapel. Als Maradona im November 2020 starb, hat der damalige Stadtpräsident Luigi de Magistris, ein ehemaliger Staatsanwalt, das heimische San-Paolo-Stadion kurzerhand in „Stadio Maradona“ umbenannt.

Gegen Maradonas ungebrochene Popularität haben in Neapel auch die Stars der heutigen Meistermannschaft keine Chance. Das Team von Luciano Spalletti spielt zwar schon während der ganzen Saison einen wunderbaren, mitreißenden Offensivfußball, und die Technik und Durchschlagskraft der beiden Schlüsselspieler, des Nigerianers Victor Osimhen – früher Bundesligaprofi beim VfL Wolfsburg – und des Georgiers Khvicha Kvaratskhelia hat selbst die Experten überrascht. Und unter anderem die Frankfurter Eintracht im Champions-League-Achtelfinale vor unlösbare Aufgaben gestellt.

Die beiden haben ihren Marktwert in dieser Saison vervielfacht, die ganze Stadt ist ihnen dankbar für den bevorstehenden dritten Meistertitel – aber für eine Heiligenverehrung wie im Fall des „Pibe de oro“, des Goldjungen Maradona, reicht das längst noch nicht. Osimhen und Kvaratskhelia verfügen eben nicht über die „Hand Gottes“ wie der Weltstar aus Argentinien.

Nun läuft in Neapel der Countdown für eine Riesenparty, wie sie die Stadt vermutlich noch nicht einmal bei den Meisterfeiern mit Maradona erlebt hatte. „Die Stadt wird vor Freude explodieren wie der Vesuv“, prophezeit Barkeeper Gennaro D’Andolfo. Auch der Präsident des SSC Neapel, der Filmproduzent Aurelio De Laurentiis, ist schon völlig aus dem Häuschen.

„Wir haben etwa 50 Spiele im Jahr und erleben diese gerade absolut intensiv. Es ist, als ob man 50-mal Liebe macht mit der schönsten Frau der Welt.“ Die Behörden rechnen bei der Meisterfeier mit bis zu drei Millionen Tifosi, die die Stadt überschwemmen werden. Und so werden im Hinblick auf die mögliche vorzeitige Entscheidung von Sonntag die Sicherheitsvorkehrungen bereits massiv verstärkt und in der ganzen Stadt zwölf Feldlazarette bereitgestellt.

Das kann sicherlich nicht schaden. Denn wenn der Meistertitel erst einmal definitiv feststeht, dann „drehen hier alle durch“, sagt De Laurentiis. „Aber eigentlich sind schon jetzt alle verrückt geworden.“

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