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„Als wollten alle schnell in den Urlaub“

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Von: Frank Hellmann

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Trauernder Fan im Stadion in Kazan.
Trauernder Fan im Stadion in Kazan. © rtr

Der deutsche Fußball muss aufpassen, dass der Kontakt zur Basis nicht weiter bröckelt.

Geschlafen hatte Mark Norka nicht viel. Seine russische Frau fütterte beim Frühstück am Donnerstagmorgen im Shalyapin-Hotel von Kasan zwar gerade das Kleinkind, aber die durchwachte Nacht in der kurzen Dunkelzeit hatte andere Ursachen. „Ich habe mich immer gefragt, warum man solch ein Spiel verlieren muss.“ Eine Antwort auf die Frage fiel ihm nicht ein, so dass er seine Eindrücke aus dem deutschen Fanblock beim WM-Aus gegen Südkorea (0:2) schilderte: „Die Mannschaft hat Fußball gespielt, als wollten alle schnell in den Urlaub. Das ist doch unerklärlich.“ Die letzten Spuren schwarz-rot-goldener Schminke hingen wie Schatten aus besseren Zeiten auf seinen Wangen.

Eigentlich war auch er ja voller Vorfreude in die Tatarenstadt gekommen, um gegen Südkorea den Achtelfinaleinzug zu erleben; stattdessen wurde der aus Viersen stammende Fan von Borussia Mönchengladbach Augenzeuge von Auflösungserscheinungen wie bei einem Kreisklassenkick auf einem Ascheplatz am Niederrhein. Gekostet hatte ihn die Karte 9900 Rubel, umgerechnet etwa 135 Euro. Dazu der Flug von Düsseldorf nach Moskau und die Unterbringung. Trotz allem Frust bemühte er sich um eine differenzierte Bewertung des Debakels

Über die sozialen Netzwerke hatte aus Deutschland längst kübelweise Hohn und Häme auch Russland erreicht. Etwa die über Whatsapp versandte Abbildung, dass das deutsche Trikot ab Montag bei Lidl, Aldi und Co. erhältlich sei. Der Preis von 99,95 rot durchgestrichen. Dafür 2,75 Euro – elfmal 25 Cent Flaschenpfand. Früher wurden die elf Versager wahlweise in leeren Bierflaschen oder als Bratwürste am nächsten Morgen in der „Bild“-Zeitung abgedruckt. Heute macht so etwas direkt nach Abpfiff die Runde.

Und doch ist es neu, dass das Jersey mit dem eigentümlichen Zackenmuster auf einmal Ramschware sein soll. Mit das Schlimmste, was dem Deutschen Fußball-Bund (DFB) mit seiner gerne als Premiumprodukt titulierten A-Nationalmannschaft passieren kann. Sie ist die Lokomotive, die mit ihrer globalen Strahlkraft alle mitziehen soll. „Die Mannschaft“, wie es in der törichten Kommunikationsstrategie heißt, galt weltweit als Qualitätsbegriff.

Seitdem die WM 2018 auf russischem Boden lief, hat es eigentlich genügt, sich als Gast aus Deutschland zu erkennen gegeben. Wer aus „Germaniya“ stammt, eine Fan-ID oder Akkreditierung um den Hals hängen hat und sich dem Fußball zugehörig fühlt, bekam zwangsläufig in der Fußgängerzone oder im Taxi den erhobenen Daumen gezeigt. Gütesiegel deutscher Wertarbeit, der Fußball-Weltmeister. Und sogar den Namen Joachim Löw konnten die meisten Menschen zwischen St. Petersburg oder Kasan aussprechen.

Einer wie der Student Santiago López Garcia gehörte auch zu den Ungläubigen, die am Tag danach um Erklärungen rangen. Der Kolumbianer saß in einem Auto, um von Kasan nach Samara zu kommen und besuchte das Gruppenspiel gegen Senegal. Seit vergangenen Herbst lebt der Student in der Tatarenrepublik und hatte sich gefreut, dass Deutschland mindestens einmal in seiner Wahlheimat antreten würde. „Ich bin geschockt. Wie konnte das passieren?“ Er zuckte mit den Schultern.

Viel Vertrauen verloren

Eine über Jahre von Bundestrainer Joachim Löw erworbene Reputation droht zu zerbersten. Der Imageschaden ist noch gar nicht absehbar. Aber nicht nur die internationale Wertschätzung wird sich verändern, auch national ist schon viel Vertrauen verloren gegangen. Als erstes gehören von DFB-Direktor Oliver Bierhoff in seiner Funktion als Manager der Nationalmannschaft die Vermarktungsstrategie und Preispolitik hinterfragt. Weil selbst bei einem Freundschaftsspiel wie gegen Frankreich im November vergangenen Jahres in Köln Abertausende Plätze leer bleiben. Und es wird auch kein Automatismus greifen, dass das erste Heimspiel der beim Publikum noch unbekannten Nations League am 6. September in der Münchner Arena – dann wieder gegen Frankreich – ausverkauft sein wird.

Überdacht werden muss ferner, ob die Abschottung das Aushängeschild wirklich selig macht. Zugpferde wie der FC Bayern oder Borussia Dortmund erleiden keinen Schaden, wenn sie sich im Alltag fast nur noch verschanzen, weil ihre Spieler im Drei-Vier-Tages-Rhythmus auftreten und ständig Präsenz zeigen. Eine Nationalmannschaft soll aber ein stückweit auch Botschafter sein, so wünscht sich das schließlich der DFB selbst, doch das Trainingslager in Südtirol geriet im Vorlauf der WM nur zur Demonstration der Wagenburg-Mentalität.

Die blickdichten Planen um das Hotel Weinegg in Eppan waren eingedenk der wenigen Zaungäste eigentlich nur ein Zeichen, wie abgehoben diese Mannschaft in Wahrheit ist. Selten war ein Slogan wie #ZSMMN so daneben. So etwas Unverständliches konnte nur in geistiger Umnachtung entstehen. Zusammen passte diesmal nur wenig. Selten dürfte das Binnenklima deutscher Nationalspieler untereinander so wenig leistungsfördernd gewesen sein wie diesmal.

Mark Norka wird seine Konsequenzen ziehen. Bundesligaspiele seines Lieblingsvereins will er weiterhin besuchen. Die nächste Zeit wird er verfolgen, was sich auf dem Transfermarkt tut. Und dann beim Start der neuen Saison in den Borussia-Park gehen. Nur sollte es mal wieder ein Länderspiel in Mönchengladbach geben, kauft er sich keine Karte mehr.

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