Surfen erstmals bei Olympia: Fukushimas vergessene Wellen

Surfen ist bei den Spielen von Tokio erstmals olympische Disziplin. Die durch eine Atomkatastrophe zerstörte Küste von Fukushima gilt als besonders gutes Wellengebiet.
Tokio ‒ Wenn Jin Baba durch den Sand von Kitaizumi stapft, hat er schnell einen Klos im Hals. „Seit zwei Jahren veranstalten wir hier endlich wieder Surfturniere“, sagt der Stadtbeamte aus Minamisoma, einer 50.000-Einwohnerstadt an der Nordostküste von Japan und deutet den Strand entlang. „Das ist eigentlich unglaublich. Vor zehn Jahren lagen genau hier noch lauter tote Körper, die der Tsunami herangespült hatte. Ich war selbst hier und musste es mit ansehen.“ Heute kommen Kinder aus der Region hierher, um zu lernen, wie man Wellen reitet, und sich dann mit den anderen zu messen.
Geht es nach Jin Baba, wird der Strand Kitaizumi in Minamisoma bald wieder ein wichtiger Standort für den Surfnachwuchs sein. „Aber nicht nur für Fukushima, sondern für ganz Japan.“ Bis dahin liege zwar noch etwas Wegstrecke voraus. Weiterhin müssen Offizielle hier regelmäßig radioaktive Strahlung messen, auch wenn vor gut zwei Jahren am gesamten Strand der Oberflächensand abgetragen wurde. Vor allem die Reputation der Gegend habe gelitten, sagt Jin Baba und lächelt bitter. „Immerhin ist heute bekannt, dass wir hier gute Wellen kriegen.“ Es klingt ein bisschen nach Galgenhumor.
Vor zehn Jahren wurde der Nordosten Japans aus traurigen Gründen weltbekannt. Am 11. März 2011 bebte zuerst die Erde mit der Stärke 9,0, dann schwappte eine rund 20 Meter hohe Welle über die Küste herein. Durch das Erdbeben und den Tsunami starben an die 20.000 Menschen, Hunderttausende verloren ihr Zuhause. Von der Region besonders hart getroffen wurde die Präfektur Fukushima, wo auch noch das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi havarierte. Kurz darauf musste im Umkreis von 30 Kilometern alles evakuiert werden. Für Japan war es die größte Katastrophe seiner jüngeren Geschichte.
Keine Olympia-Wettkämpfe: Vor Fukushima sind die Schäden der Atomkatastrophe noch immer sichtbar
Fährt man heute die Küste von Fukushima entlang, sind die Schäden noch immer sichtbar. Die Orte, in denen die Atomruine liegt, bleiben verlassen. Alle paar Kilometer sind Geigerzähler installiert. Wegen der hohen Strahlung können weiterhin 40.000 Menschen noch nicht wieder zurück in ihre Heimat ziehen. Aber hier und da ist schon wieder Leben eingekehrt. Der Strand Kitaizumi, der vom havarierten Kraftwerk 25 Kilometer entfernt ist und erst vor zwei Jahren wieder öffnen durfte, ist einer der Lichtblicke der Gegend.
Stadt | Fukushima |
Land | Japan |
Region | Tōhoku |
Präfektur | Fukushima |
Bevölkerung | 284.282 (1. März 2021) |
Doch geht es nach den Menschen hier, hätte Fukushima dieser Tage ein viel größerer Lichtblick werden sollen. Bei den olympischen Spielen von Tokio gehört Surfen erstmals zum Wettkampfprogramm. Die Wettbewerbe werden allerdings im südlichen Küstenort Ichinomiya in der Präfektur Chiba ausgetragen, nahe Tokio. Dort befürchten Veranstalter und Athleten seit Wochen, dass es über die Wettkampftage an guten Wellen mangeln wird. In Fukushima, das vor der Atomkatastrophe eine beliebte Surferdestination für die nationale Szene war, hätte es dieses Problem vermutlich nicht gegeben.
Warum die Entscheidung dennoch auf Ichinomiya fiel, haben die Organisatoren nicht erklärt. „Unsere Wellen sind auf jeden Fall besser“, sagt Kentaro Yoshida. In Hirono, einem weiteren Ort an der Küste von Fukushima, für den die einstige Evakuierungsanordnung mittlerweile aufgehoben ist, wachst er sein Surfbrett. Yoshida betreibt in der Nachbarschaft ein Hotel, das derzeit vor allem Aufräumarbeiter für die Kraftwerksruine beherbergt. „Die Arbeiter kommen aus ganz Japan. Viele von ihnen werden hier zu Surfern.“ Einige der Arbeiter sind tatsächlich zu sehen.
Kentaro Yoshida glaubt, dass in Fukushima wegen des belasteten Namens nicht bei Olympia gesurft wird
Kentaro Yoshida selbst reitet jeden Tag die Wellen, seit mehr als zehn Jahren. Und er hat sich geschworen, dass er diese persönliche Tradition beibehalten wird. „Am Tag des Tsunami war ich mit Freunden hier am Strand. Damals gab es überhaupt keine Wellen. Wir sind wieder nach Hause gegangen. Und dann kam später diese Riesenwelle, die alles veränderte.“ Die darauffolgende Krise brachte den Inlandstourismus, der auch von den Surfern abhing, an den Nullpunkt. Zuletzt kamen laut der Surfvereinigung Fukushima zumindest die besten Surfer des Landes regelmäßig zum Training nach Fukushima.
Nicht nur Kentaro Yoshida glaubt, dass der Ruf des Namens Fukushima ein Grund dafür war, warum die olympischen Surfwettbewerbe diese Tage nicht in Fukushima stattfinden, sondern rund 200 Kilometer weiter südlich, selbst wenn die Wellen dort kleiner sind. Auch der Hobbysurfer Clinton Taylor interpretiert die Wahl für den Wettkampfstandort auf diese Weise. Der Neuseeländer, der in Chiba lebt, fährt jeden Monat zum Surfen nach Fukushima. „Viele Menschen glauben, dass Fukushima eine Strahlenhölle ist. Aber viele Orte haben dieses Problem heute nicht mehr. Ich surfe lieber dort als in Chiba.“
Olympia 2021: Vor Fukushima finden keine Wettkämpfe statt
Tatsächlich wird in vielen Orten an der Küste heutzutage keine höhere Strahlung mehr gemessen als in europäischen Städten oder in Tokio. Laut dem japanischen Institut für Radiologiewissenschaften ist das Surfen in Fukushima auch nicht weiter gefährlich. Schließlich würden radioaktive Stoffe im Wasser schnell vermischt, die Belastung durch die Sonne sei stärker. Auch die NGO Greenpeace warnte vor einigen Jahren nicht explizit vorm Risiko, dem man sich durch das Surfen in der Region aussetze, sofern man sich nicht unmittelbar vor der Kraftwerksruine bewege. Man sprach stattdessen von unkalkulierbaren Risiken.
Für die Surfer, die wegen hoher Wellen in den Norden fahren, ist der weiter bestehende Reputationsschaden von Fukushima aber auch ein Vorteil. „Nirgends hast du so gute Surfbedingungen und gleichzeitig so leere Strände“, sagt Clinton Taylor. Bei den olympischen Wettbewerben in Ichinomiya wiederum wird es beim Kampf um Medaillen wohl darum gehen, wie gut sich die Athleten auf kleine Wellen einstellen können. Als Favoriten gelten daher Surfer, die daheim ähnliche Bedingungen vorfinden, wie etwa Kolohe Andino aus Kalifornien.
So gilt der erste olympische Surfwettbewerb als besonders schwierig. Aber für spektakuläre Bilder wird er wohl nicht sorgen. (Felix Lill)