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Eine Spur des Missbrauchs im kanadischen Eishockey

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Von: Günter Klein

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Wird wegen seiner mutmaßlichen Vorgeschichte von Fans in Bremerhaven abgelehnt: Jake Virtanen.
Wird wegen seiner mutmaßlichen Vorgeschichte von Fans in Bremerhaven abgelehnt: Jake Virtanen. © Imago

Der Verband klärt Fälle sexueller Übergriffe schon mal mit Schweigegeld, und mancher Spieler oder Trainer landet später in der DEL in Deutschland.

Jake Virtanen ist fast so talentiert wie Superstar Leon Draisaitl. Das war zumindest die Einschätzung der Eishockey-Scouts aus Nordamerika. Beim Draft 2014 landete der Kölner Draisaitl auf Rang drei seines Jahrgangs, die Edmonton Oilers sicherten sich die Rechte an dem deutschen Stürmer und wurden glücklich mit ihm. Der dritte Name, der nach dem von Draisaitl genannt wurde, war Jacob „Jake“ Virtanen, Kanadier mit finnischen Familienwurzeln. Er ging zu den Vancouver Canucks, die ihn zum Stammspieler aufbauten und mit ihm vor drei Jahren dem Stanley Cup nahekamen. Virtanen ist heute 26, im besten Alter, doch er spielt nicht mehr in der besten Liga der Welt. Sondern seit zwei Wochen in der DEL, bei den Fischtown Pinguins in Bremerhaven. Ein Bruch in der Biografie. Wie das?

Wikipedia klärt nicht auf darüber, wie genau es in der NHL für Virtanen zu Ende ging. „Nach insgesamt sieben Jahren in der Organisation der Canucks wurde sein Vertrag im Juli 2021 aufgelöst.“ Und: „Der Stürmer nahm im Frühherbst 2022 auf Einladung der Edmonton Oilers an deren Saisonvorbereitung teil, eine weiterführende Zusammenarbeit kam über den Saisonstart hinaus aber nicht zustande.“ Sätze, die die Wahrheit umschiffen. Die nämlich lautet: Virtanen hing ein Prozess wegen sexueller Nötigung nach.

Die Jury sprach ihn frei, weil Aussage gegen Aussage stand. Die Frau, die ihn angezeigt hatte, gab an, von dem Sportler 2017 in einem Hotelzimmer vergewaltigt worden zu sein – mehrfach habe sie deutlich „Nein“ gesagt. Virtanen sagte, er habe ihre Körpersprache als Zustimmung gewertet, sei außerdem unter Alkoholeinfluss gestanden. Unabhängig vom Gericht traf das nordamerikanische Eishockey die Entscheidung: Virtanen gehört nicht mehr dazu. Er versuchte sich daraufhin in Russland (bis der Krieg gegen die Ukraine dazwischenkam) und zuletzt in der zweiten Liga der Schweiz, in Visp. Sportlich lieferte er, dennoch kam es zur abrupten Trennung: Zwischenmenschliche Probleme mit Trainer und Mitspielern. Jetzt Bremerhaven. Die deutsche und die örtliche Fanszene reagierten ablehnend auf den prominenten Neuen.

Kritik vom Premier

Das Eishockey ist inzwischen sensibilisiert in dieser Thematik, Fälle von sexueller Gewalt sollen nicht mehr stillschweigend als Teil einer toxischen Männlichkeitskultur hingenommen werden. In Kanada, dem Mutterland des Sports, hat es sich zur Staatsaffäre ausgewachsen, als bekannt wurde, dass der Verband „Hockey Canada“ versucht hatte, Übergriffe seiner Akteure zu vertuschen. Seit 1989 gab es 21 Fälle, zu deren außergerichtlicher Beilegung 8,9 Millionen kanadische Dollar aufgewendet wurden. „Hockey Canada“ hatte dafür eigene Rücklagen gebildet, das Sportministerium wollte wissen, ob öffentliche Gelder verwendet wurden. Jedenfalls kam es zu Rückzügen von Sponsoren – und im kanadischen Eishockey versammeln sich die Top-Companys des Landes wie Scotiabank und Tim Hortons – und dem Vertrauensentzug durch Premierminister Justin Trudeau, der anregte, notfalls müsse man einen neuen Verband gründen.

Widerliche Vorgänge

Ausgelöst wurden die Debatten dadurch, dass ein Fall von 2018 publik wurde. Am Rande eines Golf-Benefizturniers war eine 20-jährige Frau von vier Männern missbraucht worden, die sie als Mitglieder des weltmeisterlichen kanadischen U20-Nationalteams ausmachte. „Hockey Canada“ zahlte 3,55 Millionen Dollar Schweigegeld, die Namen der Spieler wurden nicht bekannt. Womöglich sind sie heute Stars in der NHL.

Zu sexuellen Übergriffen kann es auch intern kommen. Dem US-amerikanischen Trainer Clark Donatelli wurde vorgeworfen, 2018 die Ehefrau seines Assistenten beim Farmteam der Pittsburgh Penguins bedrängt zu haben. Im Jahr 2021 arbeitete er in der DEL für die Krefeld Pinguine, die die Vorgeschichte des Coaches nicht groß thematisieren wollten. In den USA sind inzwischen weitere Fälle gegen den heute 57-Jährigen anhängig, er gilt als „Serien-Belästiger“, und sein Arbeitgeber in Pittsburgh habe davon gewusst.

Besonders widerliche Vorgänge sind mit dem Namen Graham James verbunden. Der kanadische Jugendtrainer missbrauchte über sechs Jahre (1984 bis 90) den späteren NHL-Spieler Sheldon Kennedy, geboren 1969, zweimal die Woche. Kennedys Karriere zerbrach letztlich an den Nachwirkungen, er konnte sein Talent nie voll zur Entfaltung bringen. 1996 ging er an die Öffentlichkeit, befreite sich von dem belastenden Geheimnis, erstattete Anzeige gegen Graham James, der umgehend verurteilt wurde. 1998 versuchte Kennedy abseits der Publicity, die in Nordamerika jeden seiner Schritte begleitete, beim EV Landshut in der DEL einen Neustart. Zu einer Zeit, als Nachrichten vom Internet noch nicht über die ganze Welt getrieben wurden, war seine Geschichte in Deutschland kaum bekannt. Interviewanfragen nahm er freundlich an, doch er forcierte die Berichterstattung nicht. Nach ein paar Wochen in Landshut, wo er im Hotel wohnte, entschloss er sich, mit Eishockey aufzuhören. In seiner Heimat engagiert er sich nun gegen Kindesmissbrauch.

In die Anonymität flüchten kann im Jahr 2023 niemand mehr. Auch Jake Virtanen muss gerade erleben: Mit ihm kommt auch seine Geschichte an. Sein neuer Klub Bremerhaven zeigte sich gleichwohl irritiert von Reaktionen, die er als „abwertend“ empfand. „Ich sehe, wie er unter diesen Dingen leidet“, sagt Fischtown-Teammanager Alfred Prey. Er will Virtanen nun „Nestwärme“ vermitteln. Es ist vielleicht der falsche Begriff im Kontext, in dem der Spieler steht.

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