Das Vermächtnis des Rafael Nadal

Der French-Open-Dominator Rafael Nadal verschiebt weiter Grenzen und bleibt dabei wohltuend bodenständig.
Als Pete Sampras 2002 mit erstaunlichen 14 Grand-Slam-Titeln in den Ruhestand trat, war das Urteil der versammelten Experten schnell gefällt: Der Major-Rekord des Amerikaners werde niemals mehr gebrochen, nicht in der modernen Tenniswelt mit all ihren Unwägbarkeiten und den verwirrenden Machtverhältnissen. Doch dann kam erst der schwerelose Ästhet Roger Federer, dann der gnadenlose Kämpfer Rafael Nadal, dann auch noch das Bewegungswunder Novak Djokovic. Und als nun am Pfingstsonntag des Jahres 2022 beim zweiten Grand-Slam-Spektakel dieser Saison abgerechnet war, im Stade Roland Garros zu Paris, hatten diese magischen Drei zusammen 62 der großen Pokale eingesammelt. Djokovic 20, Federer 20. Nadal, der aktuelle und gefühlt ewige Champion unterm Eiffelturm, sogar 22. Er allein, der unglaubliche Spanier, hatte jetzt 14 schwere und schwerste Major-Missionen in einer einzigen Stadt, auf einem einzigen Centre Court über die Ziellinie gebracht. „Ich hätte jeden für verrückt erklärt, der mir das einmal prophezeit hätte. Es ist der totale Wahnsinn“, sagte Nadal, der Sonnenkönig des Roten Platzes. Rafa XIV.
Als jugendlicher Himmelsstürmer mit Piraten-Outfit hatte er am 5. Juni 2005 erstmals die Krone von Roland Garros erobert, als immer noch größter Fighter des Wanderzirkus, allerdings mit den Spuren einer auch zermürbenden Karriere am Körper und im Gesicht, gewann er am 5. Juni 2022 den jüngsten seiner 14 Titel – ohne Spannungsmomente mit 6:3, 6:3, 6:0 gegen den Norweger Casper Ruud, einen netten Statisten, der seit vielen Jahren in Nadals Trainingsakademie auf Mallorca zu Gast ist. Nadal hat sie inzwischen ja alle besiegt in Paris. Die Etablierten wie Federer oder Djokovic. Überraschungsgäste wie den Schweden Robin Söderling, einen fast schon vergessenen Kontrahenten wie Mariano Puerta (Argentinien) beim Premierenerfolg. „Dass jemand ein Turnier jemals wieder so beherrschen wird wie Rafa die French Open, halte ich für ausgeschlossen“, sagte der Schwede Mats Wilander, selbst einmal die Nummer eins der Welt und die Nummer eins auf Sand. Immerhin vier Top-Ten-Gegner ließ Nadal auf dem Weg zu diesem 14. Titel hinter sich, im Halbfinale begünstigte ihn dabei das Verletzungsdrama von Alexander Zverev.
Nadals kräftezehrendes Spiel bei den stundenlangen Rutschpartien auf Sand, aber eben der ganze Verschleißbetrieb der stets zu langen Tennistour von Januar bis Ende November kosten ihren Preis: Über die Jahre hat sich der Spanier fast überall Verletzungen zugezogen, ob nun an der Hüfte, den Knien, den Händen oder den Rippen. Entdeckt wurde bei ihm auch eine chronische, degenerative Fußverletzung, die er mit Schmerztoleranz, Schmerzmitteln und, wie jetzt in Paris, mit schmerzstillenden Spritzen bekämpft. Sein Fuß sei „betäubt“ gewesen, er habe ihn „gar nicht gespürt“, erklärte Nadal. Trotzdem verkündete er, zum Aufatmen der Fans, er werde „weitermachen“ und sehen, „was geht.“ In den nächsten Tagen sei eine neue Behandlungsmethode für den lädierten Fuß vorgesehen. Noch hat er deshalb auch Wimbledon nicht abgeschrieben, den Rasenklassiker, den er zuletzt 2010 gewann. Träte er an der Church Road an, dann erstmals in seiner Laufbahn als Inhaber der beiden ersten Grand-Slam-Titel der Saison.
Das Vermächtnis des Rafa N.
Risiken wird Nadal in der Zukunft keineswegs eingehen. Schließlich hat er schon reichlich Zwangspausen einlegen müssen. Nadal hatte in Paris, noch vor dem Titelcoup, den bemerkenswerten Satz gesagt, er würde auf den Pokal gerne verzichten, „wenn ich dafür einen gesunden Fuß kriege.“ Auch für ihn hat die peinvolle Schufterei ihre Grenzen. Längst hat er in der eigenen Wahrnehmung das Soll mehr als übererfüllt.
Schon zu Beginn seiner Dreißiger plagten ihn körperliche Probleme so heftig, dass er nicht mehr an Grand-Slam-Erfolge glaubte. Dann schrieb er eine erfolgreiche Comebackgeschichte nach der anderen. Plötzlich rückte er in die Pole Position der Grand-Slam-Titelgewinner. Nadal sagt: „Die meisten Grand Slams gewonnen zu haben, interessiert mich weniger als viele Menschen draußen.“
Seit fast zwei Jahrzehnten ist der erste Juni-Sonntag in Paris der Nadal-Tag. Der Tag, an dem er im Westen der Kapitale erst seinen Gegner im Finale zermürbt und dann freudetrunken in den Pokal beißt – das typische Motiv des „Kannibalen“. Nadal hat 14 Siege in 14 Finals so sehr zur Routine gemacht, dass das Unglaubliche, das Sensationelle, das Atemraubende kaum noch aufscheint hinter diesen Zahlen.
Doch vielleicht ist noch etwas viel wichtiger: In seinem ganzen Berufsleben ist Nadal immer er selbst geblieben. Der Glitzer-und-Glamourbetrieb hat ihn nicht verbogen. Nadal, der 36-jährige alte Meister, hat nie den Blick für die Prioritäten im Leben verloren. Das größte Glück für ihn sei, daheim in Mallorca im Kreis seiner Familie zu sein. „Es braucht keine Millionen, um zufrieden zu sein“, sagt der Millionär ohne Scheinheiligkeit. Sein Vermächtnis im Tennis besteht eben nicht nur aus Ruhm, Reichtum und Trophäen, sondern aus seinem Charakter, seiner Geradlinigkeit und seiner Normalität in einem unnormalen Universum des hochgezüchteten Profisports.