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Lilien-Trainer Anfang im großen Interview: „Das hat mir wehgetan“

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Von: Daniel Schmitt, Jakob Böllhoff

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Hat sich die Transferphase anders vorgestellt, muss aber damit leben: Lilien-Coach Markus Anfang. © Florian Ulrich/Jan Huebner

Trainer Markus Anfang über seine Idee von Fußball, die schwierige Kaderstruktur bei Darmstadt 98 und seine überraschende Entlassung in Köln.

Markus Anfang, vergangenen Montag hat Ihr Team in Nürnberg den ersten Saisonsieg eingefahren, durch ein Tor in allerletzter Minute. Eine große Erleichterung?

Die ersten Spiele gegen Sandhausen und Regensburg waren schon gut, wir sind bisher immerhin die Mannschaft mit dem meisten Ballbesitz und den meisten Torschüssen in der zweiten Liga. Wir haben uns aber nicht belohnt. Auch in Nürnberg lagen wir sofort zurück. Wie die Jungs diesen Nackenschlag weggesteckt haben, war toll, der späte Siegtreffer eine Befreiung.

Während der Spiele bedeuten Sie Ihren Jungs stets, ruhig zu bleiben und den eigenen Stiefel herunterzuspielen. Sind Sie so nervenstark?

Wir haben einen klaren Plan, den die Jungs in der Vorbereitung zusammen mit uns entwickelt haben. Das gibt Sicherheit. Ich versuche die Jungs zu ermutigen, das Trainierte auch im Spiel konstant durchzuziehen. Wir müssen versuchen, nicht hektisch zu werden und den Ball laufen zu lassen.

Einen Plan gemeinsam entwickeln: Wie läuft das genau ab?

Am Anfang haben wir als Trainerteam darüber gesprochen, dass es ein aktiver Fußball sein soll. Wir wollen bestimmen, was auf dem Feld passiert. Dafür muss man mutig sein und auch Fehler akzeptieren. Für die Jungs gibt es nur eine Sache, die sie nicht machen dürfen: den Unterlassungsfehler. Natürlich geben wir Strukturen vor, für die sie ein Gefühl entwickeln sollen. Dann wird nachgefragt, ob sie sich auch wohlfühlen. In diesen Strukturen dürfen und sollen sie sich aber frei entfalten.

Kosten die von Ihnen angesprochenen Nackenschläge nicht Überzeugung, auf dem richtigen Weg zu sein?

Diese Sorge habe ich nicht. Auch das Echo innerhalb der Mannschaft war nach den ersten beiden Ligaspielen extrem positiv. Natürlich weiß man nie, wie einzelne Spieler reagieren. Es kann schon passieren, dass sieben, acht Jungs stabil sind, zwei, drei andere nicht. Dann muss man sie ermutigen. Wir versuchen, die Spieler besser zu machen, guten Fußball zu spielen und damit die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, Spiele auch zu gewinnen.

Das alles verlangt eine hohe Interaktivität. Wie war das früher bei Ihnen als Spieler, da können Sie sich wohl nicht ganz so viele Anleihen geholt haben?

Früher haben wir diese Anleitungen nicht in dieser Vielfalt bekommen, das stimmt. Wir sind nicht derart taktisch geschult worden wie heutzutage. Zu meiner Zeit als Profi wurden vom Trainer viele Dinge eher einfach bestimmt, heute werden die Spieler mehr abgeholt. Sie sollen ein Mitspracherecht haben, weil sie es sind, die auf dem Feld stehen. Es geht darum, den Spieler bei seiner Idee abzuholen.

Sie haben im Sommer ein offenbar funktionierendes Team übernommen, das zuvor unter Dimitrios Grammozis Fünfter wurde. Ist da der Respekt nicht groß, möglicherweise zu scheitern?

Als ich im Frühjahr mit den Verantwortlichen gesprochen habe, stand Darmstadt lange nicht so gut da wie am Saisonende. Aber in der zweiten Liga kannst du halt in einen Lauf, in einen Flow reinkommen und dann bist du oben dabei. Jeder Trainer hat seinen eigenen Weg, wie er erfolgreich sein möchte. Ich glaube nicht, dass der Fußballstil von vergangener Saison mit dem jetzigen vergleichbar ist, ohne ihn werten zu wollen.

Wo liegen die Unterschiede?

Ich bin ein Trainer, der viel Ballbesitz sehen will, auch ein hohes Pressing. Im Vorfeld habe ich es so wahrgenommen, dass man kompakter stand und gute Umschaltmomente haben wollte.

Trauen Sie Ihrer Mannschaft denn zu, in dieser Saison einen Flow zu erwischen?

zur Person

Markus Anfang , 46, ein Kölsche Jung, arbeitet gerne und viel. Nach Abendspielen sitzt er morgens um Sechs wieder im Büro, um das Videosequenzen zu analysieren. Da überlässt der einstige Profi (unter anderem Kaiserslautern, Schalke, Düsseldorf) wenig dem Zufall. Seinen Spielern bietet er dennoch Freiräume. Nach Auswärtspartien steuert der Bus stets die erste Tankstelle an, um „stilles Wasser“, wie Anfang das kühle Blonde mit einem Augenzwinkern nennt, einzuladen. „Fußball lebt von der Gemeinschaft“, sagt er.

Anfang liebt den Karneval, dessen diesjährige Absage „blöd ist“, er pendelt regelmäßig von Darmstadt über die A3 zu seiner Familie nach Köln. In seiner Geburtsstadt war er Trainer, stand mit dem FC 2019 vor dem Aufstieg, ehe ihn Sportchef Armin Veh entließ. Zuvor coachte er Kiel von der dritten fast in die erste Liga. Seine Trainerlaufbahn begann er vor zehn Jahren in der sechsten Liga, mit dem SC Kapellen-Erft stieg er auf. Über die Jugend von Bayer Leverkusen empfahl er sich für den Profifußball. Trotz eines langen Arbeitstages, der morgens um Sechs begann, nahm er sich am Abend für das Gespräch eine Stunde Zeit.

Das ist von vielen Faktoren abhängig. Die zweite Liga ist eng. Und man muss schon sagen, dass es Mannschaften gibt, da wundert man sich dann auch ein bisschen, wie das alles entsteht, weil man ja auch um die wirtschaftliche Situation durch Corona weiß. Wenn man sieht, wie zum Beispiel St. Pauli nachgelegt hat, wenn man sieht, wie Nürnberg und der HSV eingekauft haben, und wenn man dann, ohne dass es negativ klingen soll, sieht, was wir investiert haben – dann steht das gefühlt erst einmal nicht in einem großen Verhältnis.

Wir haben Sie die vergangene Transferphase erlebt?

Ich hätte mir, ehrlich gesagt, gewünscht, dass wir viele Sachen anders umgesetzt hätten. Wir müssen – natürlich immer in dem vorgegebenen Rahmen – schauen, dass wir nach vorne kommen. Uns waren die Hände gebunden. Und das ist auf Sicht nicht schön und anstrengend, weil ich hier bin, um etwas zu gestalten. Der Kader ist reduziert worden, Gehaltsstrukturen sind verändert worden, und es sind junge Spieler dazugekommen, die viel Potenzial haben, aber wenig oder keine Erst- und Zweitligaerfahrung. Das ist ein anderer Weg, als wenn man einen Burgstaller holt oder einen Terodde, wie manch anderem Zweitligist das offenbar möglich war.

Wussten Sie denn, dass es dieser Weg sein würde, als sie im Frühjahr bei den Lilien zugesagt haben?

Nicht ganz. Corona hat alles ein Stück weit relativiert. Allerdings war es ein wichtiger Aspekt für mich, dass man hier bereit ist, den nächsten Schritt zu machen. Meine Karriere als Trainer ist bis jetzt sehr positiv gelaufen, ob das in Leverkusen in der Jugend war oder in Kiel, mit dem Aufstieg in die zweite Liga und der Relegation zur Bundesliga. Mit Köln bin ich quasi aufgestiegen. An diesen Erfolgen werde ich auch in Darmstadt gemessen. Dafür braucht es aber eine entsprechende Kaderstruktur. Wir mussten jetzt sehr kurzfristig denken.

Gibt’s dafür ein Beispiel?

Wenn man die Innenverteidiger nimmt: Wir haben mit Immanuel Höhn für nur ein Jahr verlängert, wir haben Lars Lukas Mai und Nicolai Rapp für ein Jahr ausgeliehen. Das ist natürlich nicht wirklich befriedigend, wenn man kontinuierlich etwas aufbauen will. Aber das war in dem wirtschaftlichen Rahmen nicht anders möglich und ich glaube, dass auch der Verein unter veränderten Rahmenbedingungen anders agiert hätte.

Streben Sie mit Darmstadt 98 über kurz oder lang die ersten drei Ränge an?

Ich glaube an die Mannschaft, und ich glaube auch, dass sich der Verein in Zukunft in diesen Bereichen bewegen kann, wenn die Voraussetzungen stimmen. Ich habe nie gesagt, dass es sofort sein muss. Das wäre fatal, weil es große Unterschiede gibt in der zweiten Liga. Man muss ein gesundes Fundament entwickeln. Das betrifft zum Beispiel die Kaderstruktur, dazu gehören aber auch die finanziellen Gegebenheiten. In Kiel haben wir das geschafft. Und in Köln war sowieso alles anders. Wir mussten eine Pflicht erfüllen. Es ging nicht darum, den Aufstieg zu schaffen, der war in der öffentlichen Wahrnehmung eh klar. Es ging darum, die Erwartungshaltung zu erfüllen. Jedes Spiel war das Erledigen einer Pflicht.

Sie sind im Frühjahr 2019 – ausgerechnet nach einer Niederlage gegen Darmstadt 98 – in Köln entlassen wurden, obwohl der Aufstieg quasi feststand und ihr Team meistens guten, attraktiven Fußball zeigte.

Ich war nach Köln gekommen, um etwas zu verändern, dafür hatte der Vorstand mich verpflichtet. Und wir haben etwas verändert. Über 80 Tore zu schießen, das hatte der FC zuletzt in den Siebzigerjahren geschafft. Nur mussten diese Veränderungen auch getragen werden, und in dieser Zeit hat viel nicht gepasst. Der Vorstand ist gegangen, der Präsident ist gegangen, dazu das Transfertheater um Anthony Modeste, der monatelang bei uns herumlief ohne zu wissen, wann er spielberechtigt ist. Es war zu viel Unruhe.

Denken Sie mit Unmut an die Zeit zurück?

Ich habe keinen negativen Gedanken, wenn ich an Köln denke. Ich bin Kölner, es war für mich wahnsinnig toll, Cheftrainer dieses Vereins zu sein. Das Stadion, die Lieder, die Fans – das war der Wahnsinn. Nur: Dass es am Ende so ausgegangen ist, hat mir wehgetan. Ich wäre gerne mit den Jungs oben auf dem Podest gestanden und hätte die Meisterschale hochgehalten, hätte gerne die Feier miterlebt. Ich hätte es total verstanden, wenn man nach der Saison die Reißleine gezogen hätte, weil man sich die Dinge anders vorgestellt hat. Aber diesen Moment, dieses Ziel nach einer schweren Saison erreicht zu haben und mit den Jungs zu feiern, den hätte ich mir gewünscht. Und das hätten sich die Jungs auch gewünscht, das weiß ich.

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