Medizin-Experte: „Jeder kann sein Immunsystem gegen die Viren scharf stellen“

Der Arzt Kurt Mosetter spricht über den Kampf gegen das Coronavirus, den Umgang der Fußball-Bundesligisten und Zweifel an der Notwendigkeit von Geisterspielen.
Dr. Kurt Mosetter leitet das Zentrum für interdisziplinäre Therapie (ZiT) in Konstanz. Der 55-Jährige arbeitete mit Ralf Rangnick für die TSG Hoffenheim, baute ab 2015 die medizinische Abteilung bei RB Leipzig auf, wo er sich bis heute um personalisierte Ernährungsfragen, Mikronährstoffanalyse oder Darmgesundheit kümmert. Von 2011 bis 2016 war er unter Jürgen Klinsmann Teamarzt der US-Nationalmannschaft. Er entwickelte in den 90er Jahren das Konzept der Myoreflextherapie, eine Behandlung bei Schmerzen und Funktionsstörungen des Bewegungsapparates.
Beschleunigung von Corona überraschend
Wann haben Sie zum ersten Male bei den Meldungen zum Coronavirus gedacht, dass könnte jetzt für die Menschheit gefährlich werden?
Man wusste eigentlich mit der ersten Nachricht aus China, dass wir uns schnell um Menschen mit geschwächten Immunsystemen oder mit Immunsuppressionen kümmern mussten. Vor allem Menschen die Schwachstellen haben, sind dem Coronavirus ausgeliefert. In den meisten Fällen verläuft die Erkrankung ganz milde. Viele merken es gar nicht. Wie sich diese Krankheit beschleunigt, hat man auch als Mediziner sicher nicht geahnt. Wir müssen jetzt aufpassen, dass nicht in zu kurzer Zeit zu viele Menschen krank werden.
Mittlerweile scheint der gesamte Weltsport infiziert, es hagelt Absagen in allen Sportarten auf der ganzen Welt: In Deutschland findet nun erstmals ein gesamter Spieltag der Fußball-Bundesliga ohne Publikum statt. Ist das noch angemessen?
Ich hätte nicht gedacht, dass das notwendig ist. Aber es herrscht viel Unsicherheit, und die Vorsicht muss im Vordergrund stehen. Keiner möchte mehr was Falsches sagen oder tun, nachdem das Thema, auch medial, eine solche Fahrt aufgenommen hat. Ich halte es für nachvollziehbar, dass zum Schutz der anfälligen Personen die Fußballaktivitäten ins zweite Glied zurücktreten. Dazu braucht es aber auch eine positive Aufklärung, dass es schon deutlich dramatischere Erkrankungen gab, an denen viel mehr Menschen gestorben sind. So hoffe ich, dass auch bei uns in Europa die Welle abflacht, wenn wir uns achtsam verhalten.
Coronavirus betrifft immer mehr Sportler
Einige Verbände tun so, als könne mit Geisterspielen der Wettbewerb bis zum Ende durchgezogen werden. Was ist im Fall, dass ein Spieler oder ein Mitglied aus dem Staff erkrankt? Dann hieße es doch sofort „game over“, weil alle vorübergehend in Quarantäne müssten.
Absolut! Bei mir sind Mitarbeiter, die sich in Quarantäne befinden, weil sie in Südtirol Ski gefahren sind. Es wäre für die nahe Zukunft ein Wunder, wenn nicht auch noch mehr Sportler in nächster Zeit infiziert würden.
Die Bundesligisten haben teilweise verfügt, dass die Spieler nicht mehr mit Fans oder Journalisten in Kontakt treten. Richtig oder falsch?
Das sind Maßnahmen, die gut umzusetzen sind. Alles was die Tröpfcheninfektion eindämmt – und das geschieht über den Kontakt mit Händen – ist hilfreich. Ich habe zuletzt mit RB Leipzig telefoniert, wo solche Prävention umgesetzt wird: Da sind alle Akteure mehrdimensional gesund, aber auf die Dauer lässt sich das Risiko einer Ansteckung nicht vollständig vermeiden.
Der Leiter der Medizinischen Kommission des Deutschen Fußball-Bundes, Tim Meyer, hat empfohlen, auf die Händehygiene zu achten und Abstand zu halten. Fällt Ihnen noch mehr ein, als fünf Mal am Tag zu waschen?
Das würde ich unbedingt sagen! Was kann man denn eigentlich tun: die eigene physiologische Körperabwehr auf Trab bringen. Die Evolution hat uns dazu einige Möglichkeiten mitgegeben, und dann kommen wir zum Lebensstil, wo jeder etwas tun kann, um sein Immunsystem gegenüber den Viren scharf zu stellen.
Gegen Coronavirus Immunsystem stärken
Sie plädieren dafür, den eigenen Körper als Schutzschild zu wappnen.
Auf jeden Fall. Unser Immunsystem hat verschiedene Aktionsspektren, mit denen es Viren bekämpfen kann. Um uns gegen Influenzaviren, zu denen auch Covid-19 gehört, zu schützen, müssen wir es stärken. Im Knochenmark werden die weißen Blutkörperchen gebildet, sie sich als wichtige Fresszellen betätigen, wir haben den Vitamin-D-Rezeptor, der in allen Zellen sitzt. Dazu kommen die T-Killerzellen, die eine direkte Abwehr gegen Viren bilden. Wir haben auch noch spezielle zelluläre Virus Erkennungs-Bindestellen – „viral recognition“ -, welche direkte Immunhormone zum Abtöten von Viren ausstoßen können.
Das klingt sehr wissenschaftlich. Wenn Sie es vereinfachen: Was braucht es denn, damit diese tollen Bekämpfer des bösen Virus im Körper aktiv werden?
Die einen benötigen Omega-Drei-Fettsäuren, die anderen Aminosäuren – wenn da jemand einen Mangel hat, ist es eine Katastrophe. Und wir brauchen in dieser Jahreszeit genügend Vitamin D. Bei vielen ist dieser Spiegel aber zu niedrig, gerade jetzt, wo die Sonne so wenig scheint. Man kann den Vitamin-D-Spiegel einfach messen lassen – und wenn er niedrig ist, kann man mit Tröpfchen oder Tabletten nachhelfen. Das ist relativ günstig, leicht umsetzbar und wirkt recht schnell. Umso weniger Vitamin D, desto größer ist die Anfälligkeit für eine Influenza.
Wird das bei den Vereinen beherzigt?
Von den Fußballklubs, mit denen ich mich auseinandersetze, wird genau darauf geachtet, dass der Spiegel von Aminosäuren und Vitamin D perfekt ist, damit auch die Regeneration funktioniert. Dann schläft man übrigens auch gut. Ein guter Schlaf ist genauso wichtig: In der Nacht etabliert sich die Immunabwehr. Also: früh ins Bett, kein Blaulicht am Smartphone mehr am Abend, keine Sabotage mit Süßgetränken oder Alkohol am Abend. Die Dinge sind gar nicht so schwierig.
Gegen Coronavirus hilft Obst und Gemüse
Und was sollen wir essen?
Die Ernährung ist unsere Medizin! Es gilt, viel Grünzeug, Gemüse und Obst zu essen, am besten frisch und regional zubereitet. Johannisbeeren, Himbeeren, Brombeeren oder Avocados helfen auch. Der Großteil der Immunabwehr wird aktiv aus dem Darm reguliert. Wer damit Probleme hat, sollte mit Ballaststoffen, Hülsenfrüchten, rotem, schwarze Reis, Buchweizen, Kichererbsen oder Linsen nachhelfen. Wenn der Darm zu sehr belastet wird, etwa durch zu viel Zucker, Weißmehl und Fett, auch Fertiggerichte und Konserven, dann funktioniert die Maschinerie nicht, weil das System nur verzögert auf die Viren reagiert.
Dann könnte man also sagen: Wir öffnen die Stadien wieder, verkaufen dort Linsensuppe, Quinoa und Hirsebrei statt Cola, Bier und Bratwurst und alles wird wieder gut.
(lacht). Das ist eine Teilwahrheit. Umso mehr Menschen zusammentreffen, desto größer ist das Risiko, sich anzustecken. Aber noch mal: Man kann die Durchdringung mit dem Virus auch mit einer gesundheitsbewussten Lebensweise bekämpfen. Die meisten Menschen sind Träger des Herpes-Virus, aber nur wenige erkranken – und nur dann, wenn das Immunsystem in die Senke geht. Daher bekommen viele die Herpesbläschen nur im Winter, aber im Sommer seltener. Sonne und frische Luft sind wichtig für unser Wohlbefinden. Neben der Achtsamkeit appelliere ich an die Aktivität.
Also lieber Sport treiben statt auf dem Sofa im Fernsehen schauen?
Es ist tatsächlich so, dass uns zuerst Lehrer in Asien gesagt haben, dass die Muskeln unser größtes hormonproduzierendes Organ sind. Das wollten wir erst nicht wahrhaben. Am Anfang waren nur wenige der so genannten Myokine, die Muskelhormone, bekannt, jetzt sind es mehrere Tausend. Das sind Alleskönner, die ausgeschüttet werden, wenn ich trainiere. Sie stellen die Immunzellen scharf, sie transportieren die Antikörper an den Ort des Geschehens. Deshalb hilft Sport, deshalb hilft Training. Am besten unterschiedliche Arten. Die Effizienz ist groß, um unser Immunverhalten zu aktivieren. Sie brauchen aber Aminosäuren, deshalb ist ein Proteinshake vor und nach dem Sport gut.
Gegen Coronavirus - viele Entscheidungen stehen an
Wie gut aufgestellt sind die Fußball-Bundesligisten bei diesen Themen?
Die Klubs sind sehr gut upgedatet. Ich habe erst am Dienstag vor dem Champions-League-Spiel von RB Leipzig mit deren Mannschaftsärzten Percy Marshall und Frank Striegler telefoniert: Die haben wirklich alles auf dem Radar, von den Mineralstoffen bis zu den Omega-3-Fettsäuren. Ich weiß dasselbe von der TSG Hoffenheim. Aber es gibt auch Funktionsträger wie Ralf Rangnick oder Trainer wie Achim Beierlorzer vom FSV Mainz 05, die mich dieser Tage angerufen haben und fragen: Was kann ich tun? Es gibt eine tolle Kommunikation zwischen den Mannschaftsärzten, die vordenken und den Helfern, die mitdenken. Die medizinischen Abteilungen sind inzwischen in der Bundesliga überall gut aufgestellt. Sie wissen: Die physiologische Leistungsfähigkeit im Sport hängt auch mit der Leistungsfähigkeit des Immunsystems zusammen.

Taugt der Fußball als Botschafter, was die Prävention angeht?
Nehmen wir nur Jürgen Klopp mit seiner Ernährungsberaterin Mona Nemmer, die sogar einen Spot gemacht haben, wie sich alle täglich einen Shot aus Ingwer, Grünzeug und Beeren genehmigen, um gesund zu bleiben. In Leipzig geben die Spieler mit Patenschaften für die Schulen in eine Vorbildrolle für „natural eating“ und „Glycoplan“ - das ist das Ernährungskonzept im Trainingszentrum der Profis seit 2015. Und es wäre sicherlich sinnvoll, dass die Profis der Bundesliga insgesamt ihre Empfehlungen runter zu den Amateuren zu geben.
Was bleibt, wenn das Coronavirus sich abgeschwächt haben sollte?
Wir müssen im Nachgang genau überlegen, wie hat die Politik reagiert, wie hat die Presse agiert, wie sinnvoll waren die Maßnahmen? Aber das lässt sich natürlich jetzt noch nicht abschließend beurteilen, sondern erst in drei Monaten, wenn sich das normale Leben wieder durchsetzt.
Das klingt so, als könnten Sie sich eine Austragung der Fußball-EM 2020 in ganz Europa vorstellen? Das geht doch nicht, wenn die Teams und Tausende Fans quer durch ganz Europa fliegen müssen. Oder doch?
Ich hätte da einen Hoffnungsschimmer, aber die Tendenz sehen wir erst in sechs Wochen. Da stehen viele – auch wirtschaftlich brutale – Entscheidungen an; und ich beneide die politisch Verantwortlichen wirklich nicht! Ich glaube nicht an das Szenario einer verheerenden Pandemie – wie bei der Pest im Mittelalter – , weil es sich um kein hochaggressives Virus handelt. Bei den meisten Menschen wird die Infektion wie eine leichte Grippe verlaufen. Und auch bei uns ist die Anzahl der Erkrankten gemessen an der Bevölkerungszahl noch überschaubar.
Coronavirus muss zum Nachdenken anregen
Was sagt es, dass selbst der Fußball, der bislang gegen die meisten Krisensymptome immun schien, sich nicht von den Auswirkungen frei machen kann?
Ich glaube, dass das Coronavirus alle zum Nachdenken anregt. Wir sind anfälliger mit unserer Idee, ständig durch die ganze Welt jetten zu können – das betrifft mich übrigens auch. Wenn festgesetzte Ereignisse wie Olympische Spiele oder eine Fußball-EM auf der Kippe stehen, zeigt dass nur, dass alle anfällig sind.
Und diese Schlussfolgerung erdet auch den teils ungezügelt agierenden Profisport mit all seinen Auswüchsen?
Gerade einige junge Fußballstars sind dermaßen entglitten, dass sie kein gutes Beispiel mehr abgeben. Wir brauchen wieder Botschafter für Normalität, was passiert, wenn wir uns mit Fragen wie Lebensstil, Ernährung, Umgangskulturen, auch Eigenverantwortung auseinandersetzen müssen. Danach könnten wir über den Sport an die gesundheitlichen Probleme unserer Gesellschaft herankommen: Vier von zehn Kindern bis zur sechsten Klasse in Deutschland haben chronische Schmerzen, drei nehmen schon Medikamente, zwei sind stark übergewichtig. Vielleicht kann man im Anschluss an die Krise mit dem Sport gemeinsam darüber nachdenken, was wir ein Jahr des Immunsystems und der gesundheitlichen Selbstfürsorge ins Leben rufen. Wir sollten alle mehr darüber nachdenken, wie man lebt, um gerade die nächste Generation für eine gesunde Lebensweise zu inspirieren.
Interview: Frank Hellmann