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Wildwasser Wiesbaden berät seit 35 Jahren zu sexualisierter Gewalt

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Von: Diana Unkart

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Zunächst skeptisch betrachtet, ist die Expertise der Mitarbeiterinnen gefragter denn je. In Wiesbaden sind Projekte initiiert worden, die Leuchtturmcharakter haben.

Es war das Ausmaß an sexualisierter Gewalt, das, als es Christine Raupp offenbar wurde, in ihr die Entscheidung reifen ließ, nicht mehr als Agrarwissenschaftlerin arbeiten zu wollen. Schon als Kind habe sie um ihre Rechte als Mädchen gekämpft, ohne den Begriff Feminismus zu kennen, erzählt sie. Sie wollte „an die Wurzeln dieses Übels gehen, um etwas zu verändern“. 1998 kam sie zu Wildwasser Wiesbaden.

1982 gründeten Frauen in Berlin, die sich ursprünglich in einer Selbsthilfegruppe organisiert hatten, Wildwasser. Der Name sollte für Kraft stehen, für Stärke, dafür dass die sexuelle Gewalt, die ihnen in der der Kindheit angetan wurde, sie nicht brechen konnte. Drei Jahre später gründen Frauen in Wiesbaden den Verein „Arbeitsgemeinschaft gegen sexuellen Missbrauch von Mädchen“. Ziel war es, eine Beratungsstelle für betroffene Mädchen und Frauen einzurichten. Die Vereinsmitglieder arbeiten ehrenamtlich. 1987, vor 35 Jahren, benennt sich der Verein um in Wildwasser Wiesbaden. Es ist das Jahr in dem zum ersten Mal zwei Mitarbeiterinnen gegen Bezahlung eingestellt werden.

In den 1990er-Jahren galten Frauen, die sich dagegen wehrten, dass ihnen oder ihren Töchtern sexuelle Gewalt angetan wird, durchaus noch als Zerstörerinnen der Familien. Entsprechend war der Verein, der diesen Frauen und Mädchen half, beleumundet. Heute ist die Expertise der Mitarbeiterinnen gefragter den je.

Die Fachberatungsstelle

In Wiesbaden gibt es 1984 zum ersten Mal eine therapeutisch angeleitete Selbsterfahrungsgruppe. 1985 gründen die Frauen der Selbsterfahrungsgruppe den Verein „Arbeitsgemeinschaft gegen sexuellen Missbrauch von Mädchen“. Im selben Jahr erfolgt die Gründung einer Frauenberufsgruppe, die sich mit der Problematik des sexuellen Missbrauchs auseinandersetzt. 1986 stellt die Stadt Räume für die Beratung zur Verfügung. 1987 erfolgt die Umbenennung in Wildwasser Wiesbaden e.V.

Heute beraten acht Mitarbeiterinnen Mädchen und Frauen sowie Ratsuchende aus Wiesbaden, aus dem Rheingau-Taunus- und aus dem Main-Taunus-Kreis. Zwei männliche Honorarkräfte konnten für Schulpräventionsprojekte gewonnen werden. Die wurden ab 2015 erweitert um das Thema sexualisierte Gewalt in digitalen Medien.

Jährlich bildet die Fachberatungsstelle mehr als 1000 Fachkräfte fort.

Unter dem Dach von Wildwasser Wiesbaden trifft sich seit fast 20 Jahren eine angeleitete Frauengesprächsgruppe und seit 2021 die Gruppe „Die feministischen Fritten“. Die Mädchengruppe setzt sich für Selbstbestimmung und Gleichberechtigung ein. diu

Viele Aufgaben und Projekte sind in den vergangenen Jahren hinzugekommen. Die Mitarbeiterinnen beraten Mädchen und Frauen, denen sexuelle Gewalt widerfahren ist oder Personen, die von sexueller Gewalt betroffene Mädchen, Jungen und Frauen unterstützen wollen. Es gibt Präventionsprojekte an Schulen. Exakt 500 Meldungen über Fälle sexualisierter Gewalt hat die Fachberatungsstelle im vergangenen Jahr registriert.

Ein weiterer Schwerpunkt sind Fortbildungen. Rund 1000 Fachkräfte pro Jahr, Erzieher:innen zum Beispiel oder Mitarbeiter:innen von Ämtern werden geschult. Die Nachfrage sei immens und übersteige die personellen Kapazitäten der Beratungsstelle. Ab 2010 sei das Interesse sprunghaft angestiegen. Im Januar jenen Jahres hatte die Schulleitung des Berliner Canisius-Kollegs öffentlich gemacht, dass an dem Gymnasium zwei Jesuitenpater unzählige Schüler missbraucht hatten. Seither sind viele weitere Fälle in der Kirche, in Schulen oder im Sport publik geworden. Dass diese Fälle die Öffentlichkeit für das Thema sexualisierte Gewalt sensibilisiert haben, begrüßen Christine Raupp und Ihre Kolleginnen. Gleichwohl müsse noch viel getan werden. Sexualisierte Gewalt sei nicht nur ein individuelles Schicksal, sondern habe eine viel größere Dimension. „Jede und jeder kennt einen Täter und eine Betroffene.“

In Wiesbaden sind Projekte mit Vorbildcharakter initiiert worden. Beispielsweise hat das Jugendamt vor einigen Jahren entschieden, dass bei jeder sogenannten Helferkonferenz zu einer vermuteten Kindeswohlgefährdung durch sexualisierte Gewalt eine Expertin von Wildwasser Wiesbaden hinzugezogen wird. Ein Leuchtturmprojekt sei es, das Eingang in den neuen hessischen Landesaktionsplan finden werde, sagt Christine Raupp. Auch bei Konfrontationsgesprächen des Jugendamtes mit Erziehungsberechtigten, bei denen sie darüber informiert werden, dass ihr Kind von sexualisierter Gewalt betroffen ist, gibt es ein standardisiertes Verfahren. Die Mitarbeiterinnen werden einbezogen, um das Gespräch zu moderieren und/oder, um die Begleitung der Mutter zu übernehmen. Zudem durchlaufen alle neuen Mitarbeiter:innen des Jugendamtes eine zweitägige Fortbildung zum Thema sexualisierte Gewalt.

Bei allem Leid, das die Frauen und Mädchen erfahren haben, geht es um Stärke. Das Wort „Opfer“ wird deswegen in der Fachberatungsstelle nicht verwendet. „Ich glaube, es gibt in jedem Menschen einen unzerstörbaren Kern“, sagt Mitarbeiterin Anika Nagel. Ihn herauszuarbeiten, sei ein wichtiger Teil ihrer Arbeit. Christine Raupp scheidet Ende Juni als Geschäftsführerin aus. Wie definiert sie den Erfolg ihrer Arbeit? „Wenn ein Mädchen Stärke in sich spürt, wenn ein Mädchen zu mir kommt und sagt: ‚Sie haben mir das Leben gerettet, weil Sie mir geglaubt haben‘, das ist für mich ein Erfolg.“

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