Wiesbaden: Wirtschaft sucht Ersatz für russisches Gas

Der Krisenstab beim Industriepark Infraserv spielt verschiedene Szenarios durch. Zugekaufter Strom könnte Werkstätten am Laufen halten. Aber für einige Unternehmen wird es eng.
Die Aussicht, wegen des russischen Überfalls auf die Ukraine ein Gasembargo erleben zu müssen, treibt den Verantwortlichen im Wiesbadener Infraserv-Industriepark Kalle-Albert die Sorgenfalten auf die Stirn. Ein Krisenstab tagt, der verschiedene Szenarien durchspielt. Was ist, wenn das Gas von heute auf morgen gestoppt werden sollte? Wie können die Industrieanlagen ohne Schäden geordnet heruntergefahren werden? Wie hoch wäre der betriebswirtschaftliche Schaden?
Im Oktober 2021 hat der Industriepark sein neues Gas- und Dampfturbinenkraftwerk (GuD) voller Stolz vorgestellt. Gas, das in meterdicken Rohren unter Hochdruck zum Kraftwerk strömt, sollte die Versorgungssicherheit für den Industriepark mit seinen 75 Standortunternehmen sichern, hieß es damals. Stromausfälle hatten in den Vorjahren die Produktion gestört.
Nun wollte man Strom und den für die industrielle Produktion benötigten Dampf selbst herstellen. Dafür wurden ein Holzbrennkessel und ein Ölofen stillgelegt, das bestehende Gaskraftwerk erweitert. Wer hätte sich damals vorstellen können, dass Gas keineswegs ein Garant für Versorgungssicherheit ist? In Spitzenzeiten benötigt der Industriepark 20 000 Kubikmeter Erdgas in der Stunde, die Hochdruck-Erdgasleitung ist für 30 000 Kubikmeter ausgelegt.
Zu den Fragen, die der Krisenstab beantworten muss, gehört auch, welche Unternehmen weiter produzieren können, sollte die Bundesregierung nur noch 50 Prozent der sonstigen Liefermenge an Gas durch die Rohre schicken. „Es gibt Betriebe, die Vorprodukte für die Pharmaindustrie und Gesundheitsversorgung herstellen“, teilt Pressesprecher Thomas Deichmann mit. Infraserv sei mit Versorgern und Netzbetreibern im Gespräch, damit diese auf jeden Fall weiterarbeiten dürfen. Bundesweit werde abgefragt, welche Unternehmen systemrelevant seien. Ein kurzfristiger Energiestopp oder eine Einschränkung der Gaslieferung würde bei Infraserv Kalle-Albert mit seinen 6000 Beschäftigten zu hohen betriebswirtschaftlichen Ausfällen führen, teilt Infraserv mit. Die Auswirkungen auf den Industriepark und die Produktion ließen sich aktuell nicht beziffern.
Fieberhaft wird an Lösungen gearbeitet, die Gasausfälle zu kompensieren. Der Strom könnte über öffentliche Netze eingekauft werden. So könnten wenigstens Werkstattbetriebe und Büros ihre Arbeit fortführen. Strom könnte auch einen Teil des Gases für die Dampfproduktion ersetzen. Vielleicht kann der alte Holzbrennkessel des Altkraftwerks, eine sogenannte Kaltreserve, wieder befeuert werden. Bis er wieder in Betrieb geht, würden allerdings Monate vergehen, teilt Deichmann mit. Zwei der Gasbrennkessel im Altwerk würden auch mit Erdöl funktionieren. Dies ist so vorgesehen, damit bei Wartungen an den anderen Gaskesseln die Energieversorgung gewährleistet bleibt. Schwierig werde es, die großen Industrieanlagen mit Dampf zu versorgen. Sie seien auf den Kraftwerksbetrieb angewiesen. Die Umrüstung auf andere Energiequellen werde teuer, so Deichmann, ob das Material dafür lieferbar sei, sei eine weitere Frage.
Embargo vermeiden
Die gestiegenen Energiepreise seien für Infraserv aktuell noch kein Problem. Der Industriepark habe frühzeitig Lieferverträge geschlossen und „marktübliche“ Preise erzielt. „Für 2022 haben wir uns bereits mit 95 Prozent der erwartungsgemäß erforderlichen Erdgasmenge vertraglich eingedeckt“, so Deichmann. Für 2023 seien Verträge für 65 Prozent der Menge geschlossen worden. Die Geschäftsleitung unterstütze die derzeitige Haltung der Bundesregierung, kein Embargo für russisches Gas zu verhängen, „weil die Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft sehr weitreichend wären“.