Wiesbaden: Mit Lamas wieder Vertrauen fassen

Kinder und Jugendliche finden in einer Wohngruppe mit Tieren ins Leben.
Tommy und Jenny gehen behutsam auf die Lamas zu. Die beiden jungen Menschen sondieren zunächst deren Gefühlslage. Haben sie die Ohren nach hinten gelegt oder stehen die Ohren aufrecht? Nach hinten gelegte Ohren bedeuten, dass das Lama seine Ruhe haben will. Dann ist es besser, Abstand zu halten. „Sie spucken, wenn man zu nah kommt“, klärt der zwölf Jahre alte Tommy auf. Glück gehabt. Die Lamas haben die Ohren aufrecht gestellt. Das heißt, sie sind entspannt. Tommy kennt ihre Eigenarten genau. „Penny ist die Chefin“, sagt er. Sie bestehe auf ihrer Vorrangstellung und wolle zuerst fressen. Candy und Arwen seien am zutraulichsten. Und Arwen und Mojita verstünden sich am besten.
Das Gehege neben der Wohngruppe des Evangelischen Vereins für Innere Mission in Nassau (EVIM) liegt idyllisch zwischen Bäumen und Wohnhäusern im Wiesbadener Stadtteil Sonnenberg. Die vier Lamas können auf 3000 Quadratmetern Wiese grasen. Sie haben einen Unterstand und einen Stall und dort sogar Nachbarn. Sieben Vorwerk-Hühner wohnen in einem abgetrennten Verschlag mit Auslauf. „Sie legen vier bis sechs Eier am Tag“, berichtet die 16-jährige Jenny, die wie die anderen Bewohner und Bewohnerinnen der Gruppe anders als in diesem Text heißt. Die 16-jährige Susie füttert die Hühner mit Salat und Gurken. „Das ist ihre Leibspeise“, sagt sie. Das Federvieh pickt wild drauflos. Am Wochenende gibt es in der Wohngruppe Frühstückseier. Die Eier reichen auch für Kuchen.
Acht Jungen und Mädchen zwischen zwölf und 19 Jahren leben dort, weil sie nicht bei ihren Eltern aufwachsen können. „Das hat diverse Gründe“, sagt Christian Feulbach, Teamleiter der Wohngruppe, „etwa Verwahrlosung, Misshandlung oder fehlende Erziehungskompetenz“. Die Tiere sollen den Kindern und Jugendlichen helfen, wieder Vertrauen in andere Lebewesen zu fassen. Am besten gelinge dies „übers gemeinsame Tun“, sagt Feulbach. Beim Füttern oder Stall ausmisten könnten Themen einfacher besprochen werden. Die Tiere hätten eine entspannende Wirkung. Der junge Mensch könne von Problemen berichten, ohne das Gefühl zu haben, im Fokus der Erwachsenen zu stehen. Da brauche es keinen Smalltalk. Feulbach: „Die Tiere sind ein sozialer Katalysator.“ Auch traumatische Erlebnisse können über den Kontakt mit Tieren heilen.
Seit November 2020 erfüllt das Konzept die Anforderungen der tiergestützten Pädagogik. Dadurch erhält die Wohngruppe mehr Personal. Feulbach und sein Team haben mehr Zeit, sich mit einzelnen Kindern oder Jugendlichen um die Tiere zu kümmern. Das dient dem Beziehungsaufbau. „Heute haben wir mal zwei Stunden gemeinsam.“ Die Evím arbeitet auch in drei weiteren Einrichtungen mit Tieren, teilt sie mit.
Die Kinder und Jugendlichen haben aber auch ohne Begleitung ihre Pflichten zu übernehmen. Ein Dienstplan sieht vor, wer den Hühnerstall ausmisten, die Eier holen, den Lamastall säubern und die Tiere füttern soll. Tommy, Jenny und Susie erfüllen diese Aufgaben gerne. Sie haben dadurch auch mehr Kontakt untereinander. „Die Verantwortung stärkt sie“, so Feulbach. Sie werden Experten in Tierpflege und dürfen, wenn sie ihre Sache gut machen, größere Aufgaben schultern, etwa mit den Lamas auf Trekkingtour in der Umgebung gehen. Oder wie Jenny ein eigenes Haustier halten. Sie hat ein Chamäleon in ihrem Zimmer. Außerdem hält die Wohngruppe afrikanische Riesenschnecken in einem Terrarium. Die Erzieher und Erzieherinnen bringen ihre Hunde mit, wenn sie welche haben. „Jede Tierart hat andere Bedürfnisse und Eigenarten“, erklärt Feulbach. Die Kinder und Jugendlichen lernen, dass Lebewesen Nähe unterschiedlich zulassen. Jenny erinnert sich, dass sie bei ihrer Ankunft vor fünf Jahren die Wohngruppe wegen der Tiere „cool“ fand. Susie liebt die Lamas so sehr, dass sie sie auch in den Pausen ihrer benachbarten Schule besucht. Außerdem möchte sie später „irgendwas mit Tieren machen“. Und Tommy verbringt sowieso jede freie Minute bei den Lamas und Hühnern.
