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Wiesbaden: Für mehr Insekten, Vögel und Pflanzen in der Stadt

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Von: Madeleine Reckmann

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Gut für die Biodiversität: Thomas Christ auf einer Natursteinmauer und ungemähter Wiese.
Gut für die Biodiversität: Thomas Christ auf einer Natursteinmauer und ungemähter Wiese. © Renate Hoyer

Biodiversitätsbeauftragter Thomas Christ über den Steinkrebs, die Bedeutung der Parks und was Gartenbesitzer für die Vielfalt tun können

Herr Christ, wie möchten Sie die Diversität in Wiesbaden retten?

Das ist ein hoher Anspruch. Ich alleine kann das nicht. Es ist auch unrealistisch zu glauben, das globale Problem abschließend lösen zu können. Aber im Konkreten können wir dafür sorgen, Arten und Lebensräume zu erhalten und sogar die Vielfalt zu vergrößern.

Wie soll das geschehen?

Wir beginnen ja nicht erst jetzt. Es gibt bereits viele Naturschutzprogramme und Projekte, viele davon sind erfolgreich. Was es nicht gibt, ist eine übergeordnete Strategie, die die Projekte koordiniert. Das ist jetzt der Auftrag.

Wozu braucht es eine Strategie?

Um Ziele zu definieren, Handlungsfelder zu benennen, mit denen schnell Erfolge zu erzielen sind oder die besonders dringlich sind, Projekte zusammenzuführen, die schon existieren.

Das hört sich nach Arbeitskreisen an. Haben wir die Zeit?

Wir werden nicht irgendwann zur Tat schreiten, sondern parallel zu den laufenden Projekten arbeiten. So sollen unter anderem die Lebensräume streng geschützter Arten erhalten oder geschaffen werden, die wir in Wiesbaden noch haben.

Welche sind das ?

Da ist etwa der Steinkrebs, der auf weitgehend ungestörte und vor allem von der Krebspest nicht betroffene Bachläufe angewiesen ist und der noch in zwei Oberläufen lebt. Oder die Äskulapnatter, die größte heimische Schlangenart, die für den Menschen vollkommen ungefährlich ist und beispielsweise in Frauenstein vorkommt. Und die Rohrweihe, ein seltener Greifvogel, der in Kalkofen lebt. Es wurde jetzt auch wieder der Wiedehopf gesichtet. In Wiesbaden haben wir noch eine vergleichsweise hohe Biodiversität. Wir verfügen über vielfältige Lebensräume, das Rheinufer, die Taunuswälder, eine Hügellandschaft mit kühlen Tälern und Bachläufen und Landwirtschaft.

Bezieht sich der Schutz der Biodiversität vor allem auf die ländlichen Bereiche?

Nein, innerstädtisch gibt es heute eine höhere Artenvielfalt als auf dem Land. Das liegt daran, dass die Landwirtschaft ausgeräumte Landschaften hinterlässt. In den Städten sind unterschiedliche Lebensräume aufzufinden, auf den Friedhöfen, etwa, in den Parks, im Straßenbegleitgrün und in den privaten Gärten.

Was kann man im Straßenbegleitgrün und größeren Grünflächen ansiedeln?

Dort ist Insektenschutz wichtig. Man wundert sich außerdem, wie viele Kleinsäuger in der Stadt leben. Wiesbaden ist die Hauptstadt der Gartenschläfer, obwohl er in anderen Gegenden schon ausgestorben ist. Hier besiedelt er ganze Stadtbezirke. Es geht im Übrigen nicht nur um ein einzelnes Tier oder eine einzelne Pflanze. Die Leute denken oft: So viel Geld nur für eine Blume. Es ist bedeutsam immer wieder zu sagen, dass es hier auch um die Lebensgrundlagen von uns Menschen geht. Wir sind abhängig davon, dass das Ökosystem fortbesteht. Einzelne Arten sind nur Zeiger für dessen Gesamtzustand.

Zur Person

Thomas Christ ist seit einem Jahr Beauftragter für Biodiversität in Wiesbaden. Er studierte in Mainz Geographie mit geo-ökologischem Schwerpunkt.

Der heute 54-Jährige aus Taunusstein war zuletzt im Amt für Statistik und Stadtforschung der Landeshauptstadt beschäftigt. mre

Worauf müssen sich die Menschen künftig einstellen?

Im Idealfall auf eine buntere und lebendigere Stadt mit mehr Insekten, Vögeln, Pflanzen. Früher hat man von mehr Grün in der Stadt geredet, heute wissen wir, dass wir es bunt brauchen. Auf den Wiesen in den Parks sollen viele Wildblumen blühen. Deshalb sollten die Wiesen seltener und nach Möglichkeit nicht komplett auf einmal gemäht werden, damit sich Wildblumen durchsetzen können. Es muss mehr Dach- und Fassadenbegrünung geben. Klimaschutz, Klimaanpassung und Biodiversität sind zusammen zu denken. Das heißt auch, Gewohnheiten aufzubrechen. Gartenschläfer in der Stadt sind nicht schädlich. Man braucht davor keine Angst zu haben. Schließlich muss man auch seinen Konsum überdenken. Torfhaltiges Pflanzsubstrat und Produkte mit Palmöl etwa gilt es zu vermeiden, denn ihre Produktion zerstört andernorts Lebensräume.

Werden die Stadtmenschen Parks akzeptieren, die nur selten gemäht werden?

Umweltbildung und Öffentlichkeitsarbeit sind wichtig, damit Verständnis und Akzeptanz für Tiere und Pflanzen wächst. Es geht nicht darum, Grünflächen wie Parks und Gärten unseren ästhetischen Vorstellungen zu unterwerfen sondern der Natur Raum zu geben zur Entfaltung. Wenn aufgrund des Insektenschwunds die Vogelpopulation zurückgeht, merken die Leute das. Auf der Umweltbildung in Schulen und Kitas liegt meine Hoffnung. Was die Akzeptanz der Wiesen betrifft: Das Grünflächenamt hat Demonstrationsflächen angelegt, bei denen die Ränder regelmäßig gemäht werden. Das ergibt einen Übergang in die wilden Blühwiesen und zeigt, dass das keine Schlampigkeit ist sondern so gewollt.

Die Landwirtschaft müsste sich ja auch verändern. Wie soll das gelingen, wenn die Agrarpolitik der Europäischen Union die Landwirte nach wie vor nach Fläche bezahlt?

Die EU-Politik wird uns nicht abhalten, alles zu versuchen, was möglich ist. Zu den Landwirten in Wiesbaden haben wir offene Kanäle, wir können miteinander reden. Dennoch muss man anerkennen, dass sie unter mörderischem Druck stehen, solange billige Produktion das Hauptargument ist. Beim Feldflurprojekt in Wiesbaden-Ost kooperieren Landwirte, Jäger und Stadt ...

... die Hegegemeinschaft Wiesbaden-Ost hat auf über sieben Hektar Land seit 2017 Blühstreifen eingesät ....

... dort gibt es beträchtliche Erfolge. Die Rebhuhnbestände haben sich verdoppelt, gleiches gilt für den Feldhasen. Wir müssen die Landwirte mitnehmen, mit ihnen reden, auch Kompromisse eingehen. Denn natürlich gibt es auch in Wiesbaden zu wenig Feldgehölze. Es geht auch um weitere Streuobstbestände.

Was empfehlen sie den Leuten für den eigenen Garten?

Mehr Strukturvielfalt. Wichtig ist, keine künstlichen Dünger oder künstliche Pflanzenschutzmittel zu benutzen und auf einheimische Arten zu setzen: Obstbäume, Weißdorn, Schwarzdorn, Rosenarten, Beikräuter zulassen, den Rasen wachsen lassen und seltener mähen. Die naturnahe Gartengestaltung ist ein großer Hebel. Mit Kirschlorbeer, Tuja und Rollrasen können Tiere nichts anfangen.

Für diesen Monat haben Sie das Kick-Off für die Biodiversitätsstrategie vorgesehen.

Das Strategieteam wird Rahmenbedingungen und Handlungsfelder abstecken. Was fehlt? Woran hakt es? Die grundlegenden Weichenstellungen sollen von der Stadtverordnetenversammlung legitimiert werden. Das wird übrigens nicht die Biodiversitätsstrategie des Umweltamts sondern der Landeshauptstadt. In den Strategieprozess sind verschiedene Ämter und Dezernate eingebunden - das Grünflächenamt spielt eine ganz wichtige Rolle - zudem andere Akteure wie Naturschutzverbände. Es geht darum, die personellen und finanziellen Mittel so einzusetzen, dass sie den größtmöglichen Erfolg bringen. Es wird klare Priorisierungen geben.

Interview: Madeleine Reckmann

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