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Wiesbaden: „Ein System von Bereicherung und Untreue“

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Von: Madeleine Reckmann

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Mit zersaustem Haar: Jan Görnemann stellt sich dem Sturm entgegen.
Mit zersaustem Haar: Jan Görnemann stellt sich dem Sturm entgegen. © ROLF OESER

Der Geschäftsführer des Wiesbadener Verkehrsunternehmens Eswe, Jan Görnemann, über die Skandale im Haus, die Politik und wie die Verkehrswende doch noch gelingen kann.

Das Wiesbadener Nahverkehrsunternehmen Eswe wird von Vorwürfen der Günstlingswirtschaft erschüttert. Der Aufsichtsrat berief einen der beiden Geschäftsführer, Jörg Gerhard, von seinem Posten ab. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen ihn, den früheren Geschäftsführer Hermann Zemlin und andere Personen. Wie geht es dem neuen Geschäftsführer, Jan Görnemann, der das Unternehmen seit Dezember leitet, damit? Görnemann läuft schnellen Schrittes über den Betriebshof. Busse kreuzen. Er spricht die Beschäftigten an und redet, obwohl keine Fragen gestellt wurden.

Görnemann: Das ist die Werkstatt für die Karosserien der 360 Busse. Blechschäden oder ein kaputter Spiegel, hier wird das repariert.

Mechaniker und Busfahrer grüßen

Hier haben sich in letzten Jahren zu wenige Geschäftsführer blicken lassen. Mittlerweile bin ich bekannt. Alles, was am Bus kaputt ist, machen wir heil, das ist ein Full-Service-Unternehmen.

Herr Görnemann, ist das gut oder schlecht?

Das ist oldschool. Andere Unternehmen geben Dinge, auf die sich Betriebe spezialisiert haben, nach draußen, die Achsen, die Elektrobatterien. Wir parken unsere Busse zudem in der Gartenfeldstraße, der Mainzer Straße oder bei den Entsorgungsbetrieben, weil nirgends Platz ist.

Das Unternehmen ist in den Schlagzeilen. Sind Sie jemals in ein solches Wespennest wie Eswe-Verkehr geraten?

Nein.

Würden Sie heute noch mal in Wiesbaden anfangen?

Nein, ausdrücklich nein.

Wie war das, als Ihr Kollege Jörg Gerhard vom Aufsichtsrat abberufen wurde?

Gerhard war freundlich und zugewandt und hat mich eingearbeitet. Aber vom ersten Tag an musste ich, egal, wo ich mich vorgestellt habe, Kollegen und Kolleginnen erst mal Fragenkataloge in die Hand drücken. Als Aufklärer sollte ich mich kümmern, weil die alte Geschäftsführung das nicht gemacht hat. Sie hat der Revision stattdessen geschwärzte Unterlagen eingereicht ...

... weshalb der Aufsichtsrat eine anwaltliche Untersuchung beschloss, um Klarheit über die Vorgänge zu erhalten.

Hier werden die Batterien auf dem Dach ausgewechselt und dort Busse mit Werbung beklebt. Sehen Sie.

Görnemann scherzt mit den Mitarbeiterinnen, die mit den Klebearbeiten beschäftigt sind.

Viel zu klein hier. Wir bräuchten einen zusätzlichen Betriebshof mit einer breiteren Infrastruktur. Ich habe die Auslieferung von 56 fertigen Batteriebussen gestoppt, weil wir zu wenig Platz haben. Wo sollen dann erst die Elektrogelenkbusse der Zukunft hin? Dieser 60 Jahre alte Hof ist Dieselbusdenken. Für Elektromobilität funktioniert das nicht. Ein einziger Hof für 800 Busfahrer und über 300 Busse ist zu wenig.

Die alte Geschäftsführung hat aber als erste Stadt in Deutschland einen emissionsfreien öffentlichen Nahverkehr bis 2022 angekündigt.

Die alte Geschäftsführung hat tolle Sachen in Aussicht gestellt, ohne an die Infrastruktur zu denken. Ich bin entsetzt, erstaunt, erschüttert, dass ich anderen erklären muss, was meine Vorgänger alles nicht gemacht haben. Es braucht Überzeugungsarbeit, um Elektrobusse betreiben zu können. Die Infrastruktur ist nicht da. Da war die Überraschung groß.

Liegt es nicht an der Wirtschaft, die es nicht schafft, Elektrobusse mit hoher Reichweite herzustellen?

Die Reichweiten sind zu kurz, die Busse dafür sehr teuer. Und wir haben sie nicht, weil wir nicht wissen, wo wir sie hinstellen und laden sollen. Wir haben Ideen und Vorstellungen, das zu ändern, aber es braucht weitere Flächen, wo die Busse zu Hause sein können. Gerne am Rande der Stadt.

Zurück zu Gerhard. Was war das für ein Gefühl ...?

Es herrschte eine konspirative Arbeitsweise. Vor die Geschäftsführung wurde ein Büro geschaltet, das prüft und filtert, was nach außen dringt. Die Themen wurden ohne Einbindung der fachlichen Mitarbeiter umgesetzt. Das ist eine Vollkatastrophe. Verantwortliche in Unternehmen sind nicht dazu da, sich zu brüsten und nur gut zu verdienen.

Zur Person

Jan Görnemann ist seit 15. Dezember 2021 neuer Geschäftsführer des Wiesbadener Nahverkehrsunternehmens Eswe. Er trat die Stelle von Hermann Zemlin an, der in den Ruhestand geangen war.

Der Diplom-Ingenieur hatte zuvor in verschiedenen Verkehrsunternehmen Führungspositionen inne. Görnemann hat bei der Bahn Eisenbahner im Betriebsdienst gelernt und über den zweiten Bildungsweg Verkehrsingenieurwesen und Logistik studiert.

Tätig war der 50-Jährige unter anderem als Betriebsleiter der S-Bahn München und als Geschäftsführer des Busunternehmens Verkehrsbetriebe Hamburg-Holstein. Dort nahm er 2018 den ersten On-demand-Verkehr in Deutschland in Betrieb.

Sie sprechen von überhöhten Gehältern der freigestellten Betriebsräte und anderer Personen.

Ich bin aus Hamburg. Dort sagt man: „So etwas tut man nicht.“ Ich habe eine Selbstanzeige beim Finanzamt eingereicht, damit wir zu viel gezahlte Lohnsteuer zurückbekommen. Ich habe außerdem Strafanzeige gegen die vorherige Geschäftsführung gestellt, weil es hier ein System der Bereicherung und Untreue gibt. Die Konzernrevision hat das aufgedeckt. Ich habe noch nie erlebt, dass ein Betriebsratsvorsitzender nicht Tag und Nacht an seine Mitarbeiter, sondern nur an sich denkt. Der freigestellte Betriebsrat hat zusätzlich zum Gehalt eine Mitarbeiter-Gewinnungszulage von acht Prozent bekommen.

Um Busfahrer anzuwerben?

Damit er nicht zur Konkurrenz wechselt. So etwas gibt man Leuten aus der IT oder dem Marketing, aber nicht einem Betriebsrat, der 30 Jahre im Unternehmen ist. Da fehlt ein gewisser Anstand, da läuft in der Sozialisation etwas grundsätzlich falsch. Wie sollen wir Mitarbeiter motivieren, wenn ein paar Leute, die sachlich und fachlich keine Ahnung haben, 9000 Euro verdienen? So etwas bleibt nicht unterm Deckel. Da wurden mehrere Personen von der CDU auf gut dotierte Posten gehoben, um sie zu versorgen.

Wie lässt sich das aufarbeiten?

Meine Kernbotschaft ist: Wer sich nicht der Vergangenheit stellt, kann sich nicht der Zukunft zuwenden. Glücklicherweise ist alles dokumentiert und abgeheftet. Man kann nachweisen, wie Sachverhalte umdatiert wurden, um sie in anderem Licht erscheinen zu lassen. Ich möchte, dass ein Eswe-Mitarbeiter sich bei einem Feierabendbier nicht mehr rechtfertigen muss, in was für einem Unternehmen er arbeitet. Nach allem, was passiert ist, muss man mit Transparenz vorangehen. Ich erwarte von der Politik, dass sie sich am Riemen reißt und nicht nur „Kowol muss weg“ fordert.

Sie meinen die FDP und die CDU, die den Rücktritt des Grünen-Verkehrsdezernenten Andreas Kowol fordern.

Die betreffenden Eswe-Kollegen, gegen die ermittelt wird, sind viel länger im Unternehmen, als Kowol Dezernent ist.

Die Rücktrittsforderung empfinden Sie als zersetzend.

Ja, zersetzend. Das sind Störfeuer, die uns auf Dauer davon abhalten, unsere eigentliche Arbeit zu tun. Ich bin gerade 100 Tage im Amt, das bewegt mich sehr.

Ist das der Grund für den hohen Krankenstand bei Eswe-Verkehr?

Es ist nicht der einzige Grund, aber die schlechte Stimmung macht auch krank.

Wie kommt man aus der Situation raus?

Wir brauchen finanzielle Planungssicherheit für die nächsten Jahre und Jahrzehnte. Und das Gerede darüber, ob Eswe-Verkehr ein umfassender Mobilitätsdienstleister sein sollte und auch Fahrräder verleiht oder nicht, muss ein Ende haben.

Sie möchten, dass Eswe Mobilitätsdienstleister ist?

Alles, was der Verkehrswende nutzt, ist notwendig. Wie sonst schaffen wir es, dass mehr Menschen Bus und Bahn nutzen? Wir brauchen zudem klare Compliance-Regeln, damit sich die Bereicherung nicht wiederholen kann. Und einzelne Mitglieder des Aufsichtsrat dürfen das Gremium nicht als verlängerten Arm des Mobilitätsausschusses im Rathaus missbrauchen.

Das verstehe ich nicht.

CDU und FDP müssen ihre Aufgabe im Aufsichtsrat begreifen. In dem Gremium geht es nicht um Parteiprogramme, sondern darum, das Unternehmen zu seinem Wohle zu kontrollieren und zu beraten. Ich komme von außen und habe die Draufsicht auf die Verhältnisse. Ich appelliere: Hört auf, im eigenen Saft zu schmoren. Komplexe Aufgaben wie ein modernes Verkehrsunternehmen löst man nicht, wenn man nicht den Blick weitet. Die Politik muss hinter der Verkehrswende stehen.

Wie kann die Verkehrswende dennoch gelingen?

2022 haben wir 120 Batteriebusse und zehn Wasserstoffbusse, ein Drittel des Fahrzeugparks. Wir schauen, welche Optionen es für weitere Batterie- und Wasserstoffbusse gibt. Vielleicht brauchen wir Möglichkeiten, die E-Busse an den Endstationen aufzuladen. Erst mal werden wir einen gewissen Prozentsatz Dieselbusse beibehalten, vor allem für die Langstrecken.

Wie ist es, die Arbeit von zwei Geschäftsführern zu erledigen? Ungesund.

Sie wurden als Geschäftsführer für eine Übergangszeit angekündigt. Wie lange bleiben Sie?

Das weiß ich nicht. Ich erfahre viel Zuspruch. Stadtverordnete sagen mir, dass sie froh sind, dass ich da bin. Wie lange ich bleibe, wird davon abhängen, ob sich die Stadt, die Betriebsräte, der Aufsichtsrat und die Stadtverordneten zusammenraufen und die Verkehrswende vorantreiben.

Interview: Madeleine Reckmann

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