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Narren im Ausnahmezustand

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Von: Jürgen Streicher

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Auf dem Rathaus-Balkon herrschen Ruhe und Sprachlosigkeit, als ein Motivwagen mit Anti-Krieg-Figur vorbeifährt.
Auf dem Rathaus-Balkon herrschen Ruhe und Sprachlosigkeit, als ein Motivwagen mit Anti-Krieg-Figur vorbeifährt. © Jürgen Streicher

Um die 300 000 Menschen am Wegesrand jubeln in Wiesbaden den Karnevalisten zu.

Um 11.11 Uhr schon 11 Grad und meist trockener Himmel, das kommt gut unter den Freunden des mobilen Karnevals. Da strömen sie in bunten Massen in schrägen Verkleidungen in die Stadt, wenn sich als Höhepunkt der Fastnacht der traditionelle „Närrische Lindwurm“ durch die Straßen schiebt. Von der „Rue“, wie sie dann liebevoll die Wilhelmstraße nennen, später an Marktkirche und Rathaus vorbei, am Ende über den Ring zurück in die Friedrich-Ebert-Allee.

Ungefähr 5000 Meter lang, windet sich der Wurm durch die Gassen und es dauert nicht lange, bis weitaus größere Zahlen die Runde machen. Noch ist der letzte Wagen nicht zurück, da verkündet die Stadt auf ihrer Homepage „knapp 300 000 Besucher:innen“ entlang der Route. Die Polizei hielt sich da noch zurück beim Zahlenspiel.

Der Karneval „Uff de Gass“ ist zurück und es ist zu spüren, dass die Menschen, die ihn lieben, unter Entzug gelitten haben in den Jahren ohne Zug. Ohne Fastnacht, ohne Narretei auf der Straße. „Endlich wieder“, der Stoßseufzer der Erleichterung, man hört ihn heraus aus den ritualisierten närrischen Dialogen und Begrüßungen.

Ohne Murren haben sie Änderungen im traditionellen Ablauf akzeptiert. Den auf 12.11 Uhr vorverlegten Start von ungewohntem Terrain, die neue Wegführung ebenso, ohne Umwege über den Elsässer Platz und den Bereich der Ringkirche wie gewohnt. Die wesentlichen Elemente des gemessen an der Besucherzahl beliebtesten Straßenfestes im Jahreslauf sind geblieben. Feiern mit vielen Menschen, Trinken im öffentlichen Raum ohne Gewissensbisse, Karneval eben. Mit anschließender „After-Zug-Party“ bis in den Abend an den Hotspots der Narretei.

Weit über 5000 Teilnehmende im Lindwurm hatte die „Dacho“, die „Dachorganisation Wiesbadener Karneval 1950 e.V.“, schon vorab angekündigt. Mehr als 200 Gruppen, 40 Pferde und sieben Pferdekutschen, 65 Vereine, die sich dem Straßenpublikum präsentieren, jede Menge „Knolle“ und anderes Zeug von ihren Wagen werfen. Dazu bescheidene acht Motivwagen, als ob es nicht mehr so viel zu erzählen gebe wie in all den Jahren zuvor. Einer davon zum Thema „Frieden schaffen – ohne Waffen“, das alte Motto aus Zeiten des „Kalten Krieges“ durchgestrichen und mit dem Vermerk „korrigiert“ versehen, da blieb manch einem Narr das Lachen in der Kehle stecken. Auf dem Platz vor dem Rathaus ist es für einen Moment stiller, dem sonst flotten Sprecher auf dem Rathaus-Balkon gehen die Worte aus. „Ja, was soll man dazu sagen? Da kann sich jeder seine Gedanken zu machen.“

Auch zum Auftritt der orangenen Männer beim Finale. Das Beste kommt zum Schluss und so fühlte sich das auch an. Direkt nach der offiziell letzten Startnummer strömte die orangefarbene Armada auf die Piste. Knapp 80 Mann stark, mit Kehrbesen und Müllwagen, gut gelaunt, die Reste der wilden Straßenparty sauber zusammenfegend, auf dass die Welt wieder in den gewohnten Rhythmus schalten kann. So viel Applaus bekommen sie sonst selten für ihre Arbeit. Und umtanzt werden sie wohl auch kaum. Gehören die jetzt noch dazu oder nicht? Diese Frage blieb für nicht wenige nach reichlichem Genuss hochprozentiger Getränke unbeantwortet.

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