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Leben im Krieg: Kein Vertrauen mehr zu den Verwandten in Russland

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Die Journalistin Nina Römer schreibt in unregelmäßigen Abständen in der FR von ihren Verwandten und Freund:innen in der Ukraine.
Die Journalistin Nina Römer schreibt in unregelmäßigen Abständen in der FR von ihren Verwandten und Freund:innen in der Ukraine. © Rolf Oeser

Als wäre der Krieg nicht schlimm genug, haben wir auch häufig noch Angehörige in Russland und Weißrussland. Ob und wie wir mit ihnen sprechen, ist ein großes Problem. Iryna hat eine Schwester und einen Bruder. Die zwei, im Unterschied zu Iryna, vermissten die Sowjetunion nach deren Zusammenbruch sehr. Damals mussten sich alle Menschen neu finden. Es war kein ruhiges Leben.

Der Bruder dachte damals, Russland und Weißrussland seien ganz anders. 2014 wanderte er nach Weißrussland aus. Unter Lukaschenko war alles stabil, aber doch auch nicht so, wie er es sich wünschte. Als jetzt der Krieg ausbrach, änderte Irynas Schwester ihre Meinung über die Sowjetunion, Russland und den Westen. Der Bruder dagegen sieht keine Schuld bei Moskau. Das Ganze sei nur Geopolitik, sagt er. Irynas ältere Tochter ist in Moskau verheiratet. Sie und ihr Mann, ein Russe, sind die einzigen, die einen klaren Verstand bewahren. „Russland ist ein faschistischer Staat. Wir ersticken hier“, sagen sie. Sie wollen die russische Staatsangehörigkeit abgeben und in die Ukraine auswandern.

„Wer in Russland ist für den Krieg verantwortlich?“ fragt Elena, „jeder und alle? Ich denke, nur diejenigen, die für den Krieg sind“, beantwortet sie ihre Frage selbst und fährt fort: „Meine Kusine in Sankt Petersburg glaubte 2014, dass die Maidan-Revolution und den Sturz des korrupten ukrainischen Präsidenten nicht die Ukrainer gemacht haben, sondern Amerikaner gegen den Willen der Ukrainer, wie es im russischen Fernsehen erzählt wurde. Ich führte damals sehr lange Gespräche mit ihr. Letztendlich glaubte sie mir, weil ich damals mehrere Monate jeden Tag auf dem Maidan protestierte. Einerseits ist meine Kusine apolitisch und denkt nicht darüber nach, ob in der Ukraine wirklich eine Junta regiert. Anderseits ist sie ein anständiger Mensch und gegen den Krieg. Sie fragte mich, ob sie zu Antikriegsdemos gehen sollte“, erzählt Elena, „ich habe ihr abgeraten. Wir sprechen jetzt nur über familiäre Angelegenheiten und unsere Hobbys. Keine Politik.“

„Du hast es gut, Elena. Für dich ist es nur Theorie“, sagt Oksana. Ich habe ständig Angst um meine Schwester. Sie lebt in einer Stadt unter Beschuss. Ihr Sohn, der schon lange Zeit in Russland wohnt, sagte ihr am Telefon: „Mama, du muss aushalten. Die Russen kommen und befreien euch von den Nazis.“ - „Hast du deinen Verstand verloren? Ich war frei. Jetzt sitze ich im Keller, kann jede Minute sterben, und du erzählst mir von guten Russen?“, entgegnete Oksana ihm. Der Sohn ist 30 Jahre alt. Er braucht nicht einmal im Internet nach Informationen zu suchen, nur seiner Mutter zuzuhören. Er tut es nicht. Auf seinem Facebook-Account habe ich Fotos von seiner Tochter, sechs Jahre alt, gefunden. Sie trägt eine Militäruniform. Es ist in Russland sehr populär, zum Tag des Sieges am 9. Mai Kinder wie Soldaten anzuziehen. Eines Tages kommt für Putin ein Ende. Das wissen wir. Wir wissen aber nicht, ob wir unseren russischen Verwandten wieder vertrauen können.

Die Journalistin Nina Römer schreibt in unregelmäßigen Abständen von ihren Verwandten und Freund:innen in der Ukraine. Sie lebt seit 20 Jahren in Deutschland, zurzeit in Wiesbaden.

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