In Wiesbaden beginnt die Bürgerbeteiligung zu spät

Trotz Fachexpertisen wird die Citybahn abgelehnt. Die Verkehrsprobleme sind bis heute nicht gelöst.
Die Landeshauptstadt liefert in ihrer jüngeren Geschichte ein Beispiel dafür, wie Bürgerbeteiligung misslingen kann. Trotz umfangreicher Informationsveranstaltungen und detaillierten Onlinedialogen zu den Planungen der Citybahn kann die Stadt ihr wichtigstes Infrastrukturprojekt nicht durchsetzen. Geplant ist, eine Straßenbahn von Mainz über Wiesbaden nach Bad Schwalbach zu bauen, um den Autoverkehr in der Stadt und auf den Einfahrtsstraßen aus dem Taunus zu entlasten.
Die meisten Personen, die bei den Bürgerbeteiligungen mitmachen, sprechen sich zwar für das Straßenbahnprojekt aus. Aber das ist nur eine kleine Gruppe. Die der Gegner:innen ist viel größer. Eine überwältigende Mehrheit von 62,1 Prozent der Wählerinnen und Wähler lehnt die Bahn in einem Bürgerentscheid im November 2020 ab – ein Debakel. Die Stadt vertut damit eine einmalige Chance für ein zukunftsfähiges Verkehrssystem.
Heute ist Wiesbaden die einzige Landeshauptstadt eines Flächenstaates ohne Straßenbahn. Kiel hat sich Ende 2022 dafür entschieden.
Dabei können sich Bürgerinnen und Bürger in den Planungsprozess einbringen. In den Stadtteilen entlang der Vorschlagslinienführung gibt es Infomessen für Fragen und Anmerkungen. Die wissenschaftlichen Studien zu den Citybahn-Planungen und zum Verkehr der Zukunft kommen bei den Menschen auf der Straße und im Netz aber nicht an. Stattdessen verfangen aus dem Kontext gerissene Zahlen, an den Haaren herbeigezogene Argumente, Lügen und falsche Behauptungen.
Die Gegner:innen der Citybahn wiederholen sie ständig, so setzen sie sich in den Köpfen fest. Gesicherte Fakten können die Fake News nicht mehr vertreiben. Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende (SPD) stellt die einzelnen Falschbehauptungen zwar öffentlich richtig. Aber: Keine Chance. Wie kann das passieren?
„Die Stadt hat kommunikative Fehler gemacht“, sagt Dirk Vielmeyer vom Bündnis Verkehrswende, der vor dem Bürgerentscheid Informationsveranstaltungen zur Citybahn moderiert hat, „den Gegnern wurde zu lange Vorlauf gelassen, ihre negativen Botschaften zu verbreiten“.
In der Tat beginnt die Bürgerbeteiligung erst im Dezember 2017, nachdem die Machbarkeitsstudie zur Citybahn schon 2016 positiv ausgefallen ist. Da aber hat sich eine Bürgerinitiative gegen die Citybahn schon formiert. Später kommt eine weitere BI dazu. In der Politik setzt sich die FDP an die Spitze der Gegner:innen, die CDU zieht in Teilen nach.
Das Mobilitätsleitbild wird nachgeschoben, als der Streit um die Bahn längst tobt. Im November 2018 fällt der Beschluss für ein solches Leitbild. Doch bis der Prozess in Gang kommt, vergeht ein Jahr. Längst hat die BI Unterschriften gegen die Bahn gesammelt. Das Mobilitätsleitbild, das ein dreiköpfiger wissenschaftlicher Beirat moderiert und an dessen Entstehung sich Vertreter:innen von 60 Wiesbadener Organisationen aus Wirtschaft, Kultur, Kirchen und anderen Bereichen beteiligen, spricht sich für ein hochleistungsfähiges Schienenverkehrssystem aus.
Das Ergebnis jedoch nehmen die meisten Menschen nicht zur Kenntnis. Vielmeyer geht davon aus, dass sich 80 bis 90 Prozent der Personen, die gegen die Citybahn stimmen, nicht umfassend informiert haben.
Verkehrsdezernent Andreas Kowol (Grüne), der erst im April 2017 Dezernent ins Amt gewählt worden ist, kritisiert ebenfalls das missglückte Timing. „Die damals politisch Aktiven haben es aufgrund guter Förderungsperspektiven für die Bahn versäumt, das Thema in die Stadt hineinzutragen“, sagt er der FR nach dem negativen Votum. In einem frühen Stadium intensiv über die Pläne zu reden und zu Bürgerforen und Bürgerbeteiligung einzuladen, hätte Erfolg gebracht.
Für Volker Blees, Professor für Verkehrswesen an der Hochschule Rhein-Main, liegt der Grund für die Ablehnung außerdem in einer zunehmenden Veränderungsfeindlichkeit und im Misstrauen gegen Politiker, erklärt er der FR. Die Stadt steckt damals in Skandalen um Vetternwirtschaft.
Statt einer Straßenbahn sollen nun mehr und längere Busse eingesetzt werden. Weil Busfahrer:innen fehlen, muss der Verkehrsträger Eswe im September 2022 aber den Fahrplan empfindlich ausdünnen. Für ein leistungsfähiges Schnellbussystem sind umfangreiche Bauarbeiten erforderlich, die die Stadt noch viel Geld kosten werden. Dass eine Straßenbahn mit einem Fahrer mehr Personen als ein Bus befördern kann, war in den Informationen zur Citybahn mehrmals gesagt worden.