Endlich auf der Flucht

Journalistin aus Wiesbaden telefoniert morgens und abends mit ihren Freundinnen.
Seit 24 Tagen schaue ich keine Filme, keine meiner Lieblingssendungen, höre keine Konzerte. Ich vermisse es nicht. Kein Interesse. Den Fernseher schalte ich nur an, um im ARD „Tagesschau“ und im ZDF „heute-show“ anzusehen. Die „heute-show“ gefällt mir besser. Der Youtube-Kanal eines ukrainischen TV-Senders ist immer angeschaltet. Mehrmals am Tag lese ich Berichte von der Front. Alle Gebiete der Ukraine werden jeden Tag bombardiert. Die Stadt Mariupol ist fast ganz zerstört. Der Name übrigens bedeutet „die Stadt Marias“, abgeleitet von Griechisch „Polis“ für Stadt und Maria. Mariupol ist quasi die „Hauptstadt“ der ukrainischen Griechen, die seit Jahrhunderten in den warmen Gegenden um das Asowsche Meer leben. Hier machten viele gerne Urlaub.
Meine Freundinnen erkennen allmählich die Gefahr. „Ich bin heute um drei Uhr in der Nacht aufgewacht und spürte ein Zittern tief in mir“, sagt Iryna. Ihre Tochter mit dem kleinen Sohn ist bereits aus Kiew nach Lwiw gefahren. Nach einem Tag ruft mich Iryna an: „Ich bin auch schon in Lwiw.“ Neben ihrer Wohnung in Kiew gibt es eine Bahnstation. Dort ist sie eingestiegen. Der Zug war fast leer. Aber am Hauptbahnhof stürmten die Menschen buchstäblich die Wagen. Die Fahrt im überfüllten Zug dauerte sechs Stunden, es war sehr kalt. Iryna ist aber an alles gewohnt. Sie wanderte schon mal durch den Dschungel Madagaskars und übernachtete in einem Zelt im Kaukasusgebirge Georgiens auf 4000 Meter Höhe.
Auch Elena ist einen Schritt weiter. Die Familie hat entschieden, zunächst in ein Dorf unweit von Kiew umzuziehen. „Mal sehen, wie meine Mutter die Strapazen ertragen wird“, erzählt Elena. „Auf dem Weg haben wir zum ersten Mal Explosionen gehört und Feuer gesehen. Ein mulmiges Gefühl. Wir wohnen in einem leerstehenden Haus.“
Oksana ist mit Schwiegertochter und Enkel Iwan mit dem Auto auf dem Weg. Saporischschja ist eine Stadt mit 800 000 Einwohner:innen. Viele wollen jetzt weg. Auf den Straßen in Richtung Westen sind riesige Staus. Abends meldet sich Oksana am Telefon: „An einem Tag schafften wir nur 200 Kilometer. Jetzt sind wir in einer kleinen Stadt. Nachts darf man nicht fahren. In der Stadt gilt ab 20 Uhr eine Ausgangssperre. Die Hotels sind überfüllt mit Geflüchteten. Freiwillige haben für uns ein Zimmer in einer Schule gefunden. Wir schlafen heute auf dem Holzboden mit Rucksack unter dem Kopf. Gute Nacht.“
Das sind gute Nachrichten, und es ist wirklich eine gute Nacht.
Die Journalistin Nina Römer schreibt in unregelmäßigen Abständen von ihren Verwandten und Freund:innen in der Ukraine. Römer stammt aus der Ukraine, lebt aber seit über 20 Jahren in Deutschland, zurzeit in Wiesbaden.