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Schulseelsorgerin wird deutlich: „Corona hat die bestehenden Probleme offengelegt“

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Von: Diana Unkart

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„Die Schülerinnen und Schüler wissen, dass ich an die Schweigepflicht gebunden bin“, sagt die Wiesbadener Schulseelsorgerin Ina Claus.
„Die Schülerinnen und Schüler wissen, dass ich an die Schweigepflicht gebunden bin“, sagt die Wiesbadener Schulseelsorgerin Ina Claus. © Monika Müller

Ina Claus erlebt als Schulseelsorgerin an einem Wiesbadener Gymnasium die Sorgen und Nöte der Schulgemeinschaft.

Wiesbaden – Enge, Zoff zu Hause und das Gefühl, nicht wertgeschätzt zu werden: Die Pandemie belastet Schüler:innen genauso wie das Lehrpersonal und Eltern. Ina Claus ist Schulseelsorgerin an der Wiesbadener Gutenbergschule und sagt, sie habe noch nie so viele private Dinge von Schüler:innen erfahren, wie in den vergangenen Monaten. Gelernt hat sie, den Antworten auf eine simple Frage mehr Zeit einzuräumen.

Frau Claus, Sie sind seit 2001 Schulseelsorgerin. Wie hat die Pandemie Ihre Arbeit verändert?

Vieles hat sich ins Digitale verlagert. Wir hatten Glück, unsere Schule ist digital gut ausgestattet. Ich nutze die Plattform Teams zum Chatten oder Telefonieren auch weiterhin. Das hat sich bewährt. Es mag nach einem Klischee klingen, aber gerade für Jungs ist das super. Da kommen viele richtig aus sich raus. Ich habe in den vergangenen Monaten so viele private Dinge von den Schülern erfahren wie niemals zuvor. Dass ich an die Schweigepflicht gebunden bin, wissen alle, und das ist mein größtes Pfund.

Corona: Es kommt zu Situationen, die schockieren

Mit welchen Sorgen und Nöten haben sich die Schüler:innen an Sie gewandt?

Sehr häufig waren und sind es familiäre Themen: Trennungen, Konflikte, Gewalterfahrungen, aber auch Mobbing und Identitätsprobleme. Durch die häusliche Enge während der Pandemie kommt es zu Situationen, die mich manchmal wirklich schockieren. Manche Eltern sind coronabedingt in eine berufliche oder finanzielle Schieflage geraten. Diese Umstände beschäftigen sie und natürlich auch die Kinder.

Wie konnten Sie helfen?

Ich beschreibe meine Möglichkeiten mal anhand zweier Beispiele: Eine Schülerin, die ich schon länger betreue, hatte während des Homeschoolings Schwierigkeiten, sich zu strukturieren und morgens pünktlich am Rechner zu sitzen. Mutter und Geschwister sind früh aus dem Haus, und ich habe festgestellt, dass sie manchmal mittags noch im Bett lag. Also habe ich regelmäßig morgens über Teams mit ihr telefoniert, damit sie eine Struktur in ihren Tag bekommt. Mit einem anderen Mädchen, das mit Cybermobbing aufgefallen war, habe ich mich zu Spaziergängen getroffen.

Und derzeit sind alle froh, wieder in der Schule sein zu dürfen?

Den Satz: ,Ich bin froh, wieder in die Schule zu dürfen‘, habe ich tatsächlich oft gehört. Aber es gibt auch Schüler:innen, die nun Probleme mit dem Präsenzunterricht haben. Sie hatten sich zu Hause eingerichtet und müssen sich plötzlich wieder in einer Gruppe von 30 Menschen behaupten. Die Zeit des Homeschoolings war ein Einschnitt. Bei manchen Schülerinnen und Schülern hat er Positives bewirkt, bei anderen hat er bestehende Schwierigkeiten verschärft.

Schulseelsorge

Die Schulseelsorge hat drei Aufgaben. Sie begleitet und berät die Schulgemeinde.

Sie organisiert spirituelle Angebote wie einen Weihnachtsgottesdienst oder einen spirituellen Impuls bei der akademischen Abschlussfeier.

Sie initiiert soziale Projekte für die Schule, beispielsweise die Ausbildung von Schülermediatorinnen und -mediatoren.

Schulseelsorger:innen sind an die Schweigepflicht gebunden.

Zuletzt war häufiger zu hören und zu lesen, dass das Thema Impfen zu Streitereien in Schulen führt.

Das kann ich bestätigen. Ähnlich wie in der Gesamtgesellschaft geht in dieser Frage ein Riss durch die Schulgemeinschaft. Ich habe kürzlich versucht, Impfen im Unterricht zu thematisieren. Das war schwierig, weil die Schüler:innen nicht sachlich ihre Argumente vorgebracht, sondern sich stattdessen gegenseitig beschimpft haben.

Lehrer:innen fühlen sich oft überfordert

Sie begleiten neben den Schüler:innen auch Kolleginnen und Kollegen. Welche Probleme beschäftigen sie?

Teilweise fühlen sie sich überfordert; sie fühlen sich nicht geschützt und alleingelassen. Und wenn es schwierig wird, so empfinden sie es, sei niemand da, der sie unterstützt.

Werden, um die Folgen der Pandemie abzumildern, mehr pädagogische und seelsorgerische Angebote benötigt?

Das kann man nicht pauschal sagen, weil die Situation von Schule zu Schule unterschiedlich ist. Was man aber sagen kann: Corona hat die bestehenden Probleme offengelegt. Wir brauchen zum Beispiel kleinere Klassen und mehr Personal. Eine Zeit lang wurde im Wechselunterricht in kleineren Gruppen unterrichtet. Das war toll. Man hat große Unterschiede bemerkt. Die Schüler:innen erleben Bildungspolitik und sie haben gelernt, dass Wertschätzung im Kapitalismus mit Geld verbunden ist. Entsprechend frustriert es sie, dass für sie vergleichsweise wenig Geld ausgegeben wird.

Welche Folgen bereiten Ihnen Sorgen?

Es gibt Schüler:innen, die Probleme haben, wieder in normale Abläufe zu kommen. Andere haben mehr Angst. Ich hoffe, dass den Schülern jetzt nicht noch mehr Stoff draufgepackt wird, weil man fürchtet, sie hätten so viel verpasst. Bildung ist mehr als reiner Lehrstoff.

Welche Erkenntnisse nehmen Sie mit?

Das individuelle Ergehen bekommt seit Corona mehr Raum. Ich frage am Anfang einer Schulstunde oft: ,Wie geht es euch?‘ Und dann reden wir, da sagt jeder was. Das Chatten via Teams behalte ich bei. Es ist eine andere Möglichkeit zu kommunizieren. Die Schüler:innen sind viel digital unterwegs und freuen sich, Post zu bekommen. (Interview: Diana Unkart)

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