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Bilder eines Einzelgängers

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Von: Madeleine Reckmann

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Ein Jahr brauchte Kirsten Thelen, um die Werke zu sichten.
Ein Jahr brauchte Kirsten Thelen, um die Werke zu sichten. © Michael Schick

Zwei Schwestern entdecken im Nachlass ihres Bruders 2500 Kunstwerke und zeigen nun eine Auswahl der Öffentlichkeit

Das Bild mit den drei Mädchen, die lässig auf dem Boden hocken, hat Hjalmar Thelen von einem Foto abgemalt. Er sei gerne mit dem Fahrrad durch Berlin gefahren, auf der Suche nach Motiven, erzählt seine Schwester Kirsten Thelen, 56. Er habe fotografiert und später die abgelichteten Szenen danach beurteilt, ob sie für seine Kunst taugten. „Guck mal, Kiki, das finde ich interessant“, pflegte er manchmal zu sagen, wenn ihm eine eingefangene Szene gefiel. Gezeigt hat er seine Malerei selbst seiner Schwester selten – und dann immer nur kurz und wenige Stücke. 

Hjalmar und Kirsten sind Geschwister mit einer besonders engen Beziehung. Kirsten ist nur elf Monate älter als ihr Bruder, sie besuchten die selben Klasse, machten 1980 gleichzeitig an der Frankfurter Herderschule Abitur, wurden oft für Zwillinge gehalten. Die Schwester weiß, wie das Bild mit den drei Mädchen entstanden ist, weil sie das Foto auf einer Speicherkarte des Fotoapparates fand. Nach Hjalmars Tod. 

Ihr Bruder starb im Januar 2017 an einer Tumorerkrankung. Kirsten Thelen und ihre jüngere Schwester Sonja, 51, machten beim Auflösen der brüderlichen Wohnung im Berliner Wedding eine überraschende Entdeckung. Sie fanden fast 2500 Gemälde, Bilder, Zeichnungen, Skizzen, Studien und Entwürfe. „Wir haben nicht geahnt, welchen Umfang und welche Qualität seine Arbeiten hatten, faszinierende Stadtansichten und einfühlsame Menschendarstellungen“, sagt Kirsten Thelen. 

Die Schwestern holten das künstlerische Lebenswerk ihres Bruders nach Wiesbaden, Kirsten Thelens Wohnort. Ein Jahr brauchte die Älteste der Geschwister, um die Arbeiten zu sichten, zu nummerieren und nach Genre und Technik zu katalogisieren.

„Das ist meine Art der Trauerbewältigung, ich neige zu Aktivität“, berichtet sie. Jetzt präsentiert sie 25 der Werke in einer Ausstellung im Wiesbadener Kunst-Modul. „Ich möchte Aufmerksamkeit für seine Arbeiten erregen, sie bekannter machen.“

Unter dem Motto „Berlin – Stadt, Landschaft, Menschen“ hat sie die Bilder herausgesucht, die ihr am besten gefallen. Das Bild mit den hockenden Mädchen ist dabei. „Wenn ich es anschaue, stelle ich mir eine Geschichte dazu vor: Klassenfahrt nach Berlin, die Schülerinnen haben einen freien Nachmittag und dürfen herumlungern. Es ist so ausdrucksstark.“ 

Die Kleidung zeigt, dass es sich um eine Szene aus unserer Zeit handelt: Die Mädchen tragen Jeans und T-Shirt. Der Künstler hat das Bild aber im impressionistischen Stil gemalt und die Licht-akzente auf die Konturen gelegt, wie es die Maler vor 120 Jahren machten. Auch seine anderen Werke sehen aus, als seien sie Ende des 19. oder Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden. „Er malt in der Art der Alten das Heute“, habe eine Kunstexpertin dazu festgestellt.

Auf Thelens Bildern sind vorübereilende Passanten mit Smartphone, Kraftwerke und Landschaften mit Hochspannungsmasten zu sehen, aber eben so gegenständlich und mit den Charakteristika der Künstler des Impressionismus oder Expressionismus. Die Tatsache, dass es unter angesagten Künstlern ein Tabu ist, die Ausdrucksweise historischer Künstler nachzuahmen, sei für ihn kein Grund gewesen, es nicht zu tun, sagt die Schwester. „Das war die Epoche, für die er sich künstlerisch am meisten interessierte.“ Hjalmar sei eben ein Nonkonformist gewesen. Empfindsam, zurückhaltend und als Einzelgänger beschreibt Kirsten Thelen den Bruder. Um die Kunst machen zu können, die er liebte, habe er sich entschlossen, keine Kompromisse einzugehen und sich nicht an den Kunstbetrieb anzupassen. Lieber lebte er auf einfachstem Niveau, jobbte als Putzmann, Hilfsarbeiter bei Siemens oder Verkäufer in einer Dönerbude, ging kaum aus, brauchte das Geld für Farben und Pinsel. 

„Es war nicht immer einfach, das zu akzeptieren“, erinnert sich die Schwester, die als Biologin ein Labor betreibt, „man dachte, er mache nichts aus seinen Fähigkeiten.“ Als Abiturient sei Hjalmar ein sehr guter Schüler gewesen, dazu talentiert, charmant und witzig; alle hätten geglaubt, aus ihm werde mal was Besonderes. Das Studium der Theaterwissenschaft brach er ab; er versuchte sich in der Schauspielerei, profilierte sich zunächst in der Variétészene rund um Scheinbar, Chamäleon und Mehringhoftheater. Ende der 90er Jahre brachte er seine Krimikomödie „Tote pinkeln nicht“ auf die Bühne. Den Durchbruch schaffte er nicht. Anschließend wandte er sich der Malerei zu – und ließ sich nicht mehr in die Karten schauen.

Sein Können habe er den Schwestern gegenüber immer heruntergespielt. Er habe sich auch nicht bedrängen lassen wollen, folglich sei seine Malerei nicht thematisert worden.  „Wer ein strenges Maß an andere anlegt, fürchtet auch die Kritik der anderen“, vermutet die ältere Schwester. Sie ist zu der Erkenntnis gelangt, dass Hjalmar unglücklicher gewesen wäre, wenn er dem Anpassungsdruck nachgegeben hätte. „Ich sehe auf seinen Bildern keine unglücklichen Menschen, die Bilder strahlen Licht und Liebe aus.“

Am Ende seines Lebens sei Hjalmar selbstbewusster geworden. „Inzwischen glaube ich, dass ich Talent habe. Wenn es mir besser geht, verkaufe ich auf dem Künstlermarkt einige meiner Akte“, habe er gesagt, als er bereits krank war. Dazu ist er nicht mehr gekommen. Jetzt setzt seine Schwester sein Anliegen fort. Sie würde auch einzelne Werke verkaufen. Das Bild mit den hockenden Mädchen allerdings nicht. Daran hängt sie. 

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