Wenn alles zu viel wird

In Selbsthilfegruppen für Menschen mit Depressionen gibt es im Kreis zurzeit kaum Plätze. „Ich wollte mich anmelden, bin aber auf eine Warteliste gekommen“, erzählt ein Butzbacher. Nun hat er die Sache selbst in die Hand genommen und eine eigene Gruppe gegründet. Das erste Treffen ist für Februar geplant. Im Gespräch erzählt er seine Geschichte - und was er der Gruppe mitgeben möchte.
Einen Satz hat er besonders verinnerlicht: „Nichts muss, alles kann“ - einer der Leitsprüche aus der Reha, in die die Therapeutin ihn vergangenes Jahr wegen Depressionen geschickt hatte.
Er möchte anonym bleiben. Es ist nicht einfach, über all das zu sprechen, sagt er. Dennoch hat er sich dazu entschieden, eine Selbsthilfegruppe zu initiieren - für Menschen mit Depressionen.
Kurz vor der Reha hatte der Butzbacher versucht, sich umzubringen. Er sagt: „Zum Glück hat es nicht geklappt.“ Als er aus der Reha kam, war er auf der Suche nach einer Selbsthilfegruppe. In der Klinik hatte er mehrere Gruppensitzungen besucht und gemerkt, dass der Austausch hilfreich ist. „Man ist in dieser Blase mit Gleichgesinnten, kann sich frei bewegen, alles sagen, ohne sich zu verstellen.“ Zu Hause informierte er sich über Gruppen im Umkreis - und kam auf eine Warteliste in Altenstadt. Altenstadt - Butzbach, die Fahrzeiten wären länger als die Treffen an sich. „Da keimte die Idee: Wenn es so einen großen Bedarf gibt, versuche ich selbst, eine Gruppe zu gründen.“ Er setzte den Plan um; nächste Woche ist das erste Treffen von „Pro Vita“ (siehe Info-Kasten).
Die Geschichte von seinen Depressionen beginnt vor sechs Jahren, erzählt er: Nach seinem Studium arbeitet er in der IT-Abteilung eines Frankfurter Unternehmens. 21 Jahre ist er dort beschäftigt, bis die IT-Abteilung aufgelöst wird und er seinen Job verliert.
„Ich habe 300 Bewerbungen geschrieben, in ganz Deutschland. Aber fast nur Absagen bekommen.“ Manche Firmen, erzählt er, haben ihn zum Vorstellungsgespräch eingeladen. „Aber mir wurde mehr oder weniger durch die Blume gesagt, ich sei zu alt.“ Nachdem er ein Jahr arbeitssuchend gemeldet gewesen sei, habe er vom Jobcenter gesagt bekommen, er sei als ITler unvermittelbar, solle eine Umschulung machen. „Ich habe den Busführerschein gemacht.“ Doch der Versuch, Busfahrer zu werden, scheiterte: wieder keine Rückmeldungen, nur ein Vorstellungsgespräch. Mit Blick auf den Lebenslauf habe der Chef gesagt: „Wenn Sie morgen einen Job in der IT-Branche bekommen, bin ich Sie als Busfahrer los.“
START AM 2. FEBRUAR
Die Selbsthilfegruppe „Pro Vita“ trifft sich ab Donnerstag, 2. Februar, um 19 Uhr in einem Butzbacher Stadtteil. Der genaue Ort wird nach Anmeldung bekannt gegeben. Da Butzbach in Grenzlage von Wetteraukreis und Kreis Gießen liegt, sind auch Teilnehmende aus dem Kreis Gießen willkommen, sagt der Initiator.
In der Ankündigung des Wetteraukreises heißt es: „Menschen, die an Depressionen leiden und sich mit anderen Betroffenen austauschen möchten, sind herzlich eingeladen, regelmäßig an den zweiwöchig stattfindenden Gruppentreffen teilzunehmen.“
Weiter heißt es: „Eine Depression äußert sich auf unterschiedliche Weise: Betroffene leiden unter Schlafstörungen, Panikattacken, verspüren kaum noch Lebensfreude, Stimmungsschwankungen, Ängste, Unruhen, Traurigkeit, körperliche Missempfindungen bis hin zu Suizidgedanken. Doch niemand muss diese Zustände alleine durchleben: Neben ambulanten, stationären oder medikamentösen Therapien gibt es zusätzlich die Möglichkeit, an einer Selbsthilfegruppe teilzunehmen. Wer daran teilnimmt, lernt Wege im Umgang mit der Erkrankung kennen, übernimmt Verantwortung für die eigene Gesundheit und erlangt mehr Wissen.“
Anmeldungen per E-Mail an die Adresse shg-provita@web.de. sda
Zu dieser Zeit geht die Beziehung mit seiner Frau in die Brüche, erzählt der Butzbacher. „Ich lebe alleine in meinem Haus. Da fällt mir abends jede Menge Blödsinn ein.“
Heute sagt er: „Es ist immer noch ein Kampf, aber ich kann jetzt besser damit umgehen. Ich habe in der Reha das Werkzeug dazu bekommen.“ In der neuen Selbsthilfegruppe möchte er das den anderen mitgeben, ihnen helfen, „dass sie nicht in dieser Einbahnstraße stecken“.
Der Butzbacher hat inzwischen einen neuen Job - als ITler. „Es ist eine Superfirma, mir macht es viel Spaß.“ Was er aber merke: Oft, wenn er abends nach Feierabend nach Hause komme, schalte er direkt den Laptop ein und arbeite weiter bis in die Nacht - um sich abzulenken. „Ich stürze mich gerne in die Arbeit, um mich nicht mit meinen Problemen zu beschäftigen.“
Doch es gelinge ihm gut, sich der Situation zu stellen: „Ich versuche, rauszugehen, Sport zu machen, unter Menschen zu gehen.“
In Menschenansammlungen fühle er sich noch immer unwohl. Einen Tag vor Weihnachten zum Beispiel habe er in einem großen und wegen der Feiertage sehr gut besuchten Supermarkt etwas besorgen wollen. „Es war Horror. Ich habe Schnappatmung bekommen.“ Auch die Organisation der Selbsthilfegruppe ist eine Herausforderung, aber eine, die er gerne annehmen möchte. Einen Raum hat er bereits organisiert, auch mit der Selbsthilfekontaktstelle des Wetteraukreises ist alles geklärt. Ziel ist es, einen sicheren Raum zu schaffen, „in dem man sich austauschen kann, auch mal weint“. Doch vor allem soll es eine „positive Gruppe“ werden: In dem Sinne, dass man sich gegenseitig hilft und stützt. Der Initiator kann sich vorstellen, sollte das den Teilnehmenden lieber sein, dass sich am Anfang Zweier- oder Dreiergruppen bilden mit Bezugspersonen - „die man dann auch mal anrufen kann, wenn man akute Probleme hat, der Therapeut aber gerade nicht zu erreichen ist“.
Doch wie es sich genau gestaltet, wird sich mit den ersten Treffen entscheiden. Der Initiator möchte nichts vorgeben, „es soll sich entwickeln“. Wer nicht möchte, muss seinen Namen nicht sagen und kann sich einen anderen ausdenken. So, wie es für jeden am besten passt. Denn, sagt der Butzbacher: „Das ist das Leitbild jeder Depressionsgruppe: Nichts muss, alles kann.“