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Vier Tage Arbeit und drei Tage frei

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Von: Jürgen Wagner

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Bunte Truppe, die weiß, was sie will: Malermeister Matthias Ertl mit seinen Gesellen und Azubis sowie Tochter Fabiene. nici Merz © Nicole Merz

Friedberg - Nicht nur Start-ups können innovativ sein“, sagt Matthias Ertl. Der Malermeister aus Friedberg hat gerade eine Vereinbarung mit seinen Mitarbeitern getroffen, die bahnbrechend im Handwerk sein könnte: Sein Betrieb steigt auf die Vier-Tage-Woche um. Ein Probejahr soll zeigen, ob die Vorteile die Nachteile überwiegen.

Flexibilität ist in der Wirtschaft das Gebot der Stunde. So bieten immer mehr Firmen die Vier-Tage-Woche an. Ein Gießener Sanitär- und Heizungsunternehmer will seine Belegschaft glücklich machen, in der Altenpflege wird diskutiert, ob so eine bessere Life-Work-Balance zu erreichen sei. Studien zeigen: Die Vier-Tage-Woche hebt die Stimmung in der Belegschaft, Produktivität und Umsätze steigen. Aus Niedersachsen wurde gar berichtet, eine Grundschule führe aus Mangel an Lehrkräften die Vier-Tage-Woche ein. Das Kultusministerium wollte sich diese Blöße aber nicht geben und beendete das Experiment.

Der Friedberger Malermeister Matthias Ertl hat sich viele Gedanken über die Vier-Tage-Woche gemacht. Im Internet las der 53-Jährige von isländischen Betrieben. „Warum nicht auch bei uns?“, fragte er sich. Zumal es das ja gibt. „Auf Großbaustellen in Berlin etwa.“ Die Firmen müssten sich etwas einfallen lassen, um Mitarbeiter zu gewinnen. „Aber das geht uns ja genauso“, sagt Ertl, der den Familienbetrieb in mittlerweile dritter Generation leitet. Neben seiner Frau Ulrike, die als gelernte Steuerfachangestellte das Büro übernimmt, sind in der Firma fünf Gesellen und drei Lehrlinge beschäftigt, und unter den Azubis ist eine junge Frau.

Der Malerbetrieb, der seinen Stammsitz im Holzpförtchen hat, setzt auf Tradition: 1956 durch Erich Ertl gegründet, übernahm dessen Sohn Winfried 1978 den Betrieb, den er 2009 an Sohn Matthias übergab. Zwei Kinder haben die Ertls, beides Teenager. Gut möglich, dass die Familientradition noch einige Zeit fortgeführt wird.

POLITISCHE FORDERUNG

Bei der Vier-Tage-Woche handelt es sich auch um eine politische Forderung. Wobei sich im Falle des Malermeisters Matthias Ertl zeigt, dass einzelne Forderungen aus ganz verschiedenen politischen Lagern kommen können. Ertl ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender der UWG im Friedberger Stadtparlament.

In der Bundespolitik ist es die Linke, die sich für neue Arbeitszeitmodelle wie die Vier-Tage-Woche starkmacht. Sie verweist in diesem Zusammenhang auf Zahlen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, wonach die Mehrheit der Beschäftigten in Deutschland ihre Arbeitszeit reduzieren möchte.

Die Linke schreibt dazu: „Die Arbeitsproduktivität hat sich in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gesteigert, damit einhergehend stieg auch die Anzahl stressbedingter Krankheiten und psychischer Erkrankungen. Die Steigerung der Arbeitsproduktivität muss endlich mit einer Absenkung der Arbeitsbelastung verknüpft werden, um Produktivitätszuwächse bei den Beschäftigten ankommen zu lassen. Dazugehört eine Absenkung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich.“ jw

Neben der Tradition ist Ertl aber auch die Innovation wichtig, wie auf seiner Homepage zu lesen ist: „Wir setzen neueste Umwelt- und gesundheitsschonende Techniken, Farben und Anstrichmaterialien ein.“ Aber nicht nur das: „Die Leute sollen immer länger arbeiten, bis 67 Jahre. Viele fragen sich, wie sie das durchstehen sollen“, sagt Ulrike Ertl. „Mit drei Tagen Ruhe, an denen man das Stresslevel runterfahren kann, geht das eher“, sagt ihr Mann Matthias.

Müssen die Maler auf eine Baustelle nach Frankfurt, gehen für die Fahrt zwei Stunden drauf. Freitags, wenn nur der halbe Tag gearbeitet wird, lohnt sich das nicht. „Klimatechnisch ist das eine Katastrophe.“ Die Benzinpreise und das Umweltbewusstsein steigen. Wenn Kunden aus Frankfurt nur für vier Tage die Anfahrt zahlen müssen, weil die Handwerker an den übrigen Tagen länger arbeiten, rechnet sich das auch für sie. So reifte die Idee eines neuen Arbeitszeitmodells. Matthias Ertl sprach mit seinen Mitarbeitern, gab ihnen eine Liste mit den Vor- und Nachteilen an die Hand und lud zur Betriebsversammlung ein. „Ich wollte das nur machen, wenn alle zustimmen.“ Die Reaktionen reichten von eher skeptisch bis Jubel. Am Ende waren alle einig, es zunächst für ein Jahr auszuprobieren.

Was spricht dafür, was dagegen? Zunächst die Nachteile: „Die Arbeitszeit verlängert sich.“ Sie geht von montags bis donnerstags von 7 bis 17.15 Uhr, mit zwei Pausen, insgesamt 45 Minuten. Im Winter ist es morgens und abends länger dunkel. Der Tagesrhythmus ändert sich. Da die Arbeitswoche nur noch 38 Stunden umfasst, verdienen die Mitarbeiter 15 Euro weniger die Woche. Wer will, kann dies aber über Überstunden ausgleichen, sagt Ertl. Die Mitarbeiter bekommen außerdem weniger Urlaub. Das ist gesetzlich festgelegt. Bei vier Wochenarbeitstagen sind es vier Fünftel der normalen Urlaubstage. Wer vorher 30 Tage Jahresurlaub hatte, verfügt künftig nur noch über 24. Allerdings gibt Ertl jedem Mitarbeiter einen zusätzlichen Tag frei. Und - damit sind wir bei den Vorteilen - alle haben künftig mehr Freizeit am Stück: Der Freitag ist künftig frei, durch das lange Wochenende haben alle längere Ruhezeiten. Durch die Brückentage werden weniger Urlaubstage verbraucht. Private Termine wie Friseur oder Arztbesuche lassen sich besser koordinieren, es fällt weniger Fahrzeit und ein geringerer Spritverbrauch für Fahrten zwischen Werkstatt und Baustelle an. Die ersten Reaktionen der Kunden seien positiv. „Viele werten das als fortschrittlich und vernünftig. Negative Reaktionen gab es gar keine.“ Der Malermeister ist sich sicher: Das Vier-Tage-Modell wird Nachahmer finden.

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