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Obdach unter Lärmschutzwand

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Von: Jürgen Wagner

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„Obdach“ ist sprachgeschichtlich eine „Überdachung“. Nachdem die Bahn in der Haagstraße eine Lärmschutzwand errichten ließ, hat sich dort ein Wohnsitzloser häuslich niedergelassen. nici Merz © Nicole Merz

Och nö!“, sagt der Obdachlose, er wolle lieber nicht mit der Presse sprechen. Aber halb Friedberg spricht über den Mann, der seine Behausung unter der Lärmschutzwand in der Haagstraße aufgeschlagen hat. Bei dieser Kälte? Bekommt er da keine Hilfe? Doch, die bekommt er, aber er lehnt sie ab, wie die Streetworker des Karl-Wagner-Hauses sagen.

Kalle, so heißt der Obdachlose, will seine Ruhe haben. Trotzdem ist er in Friedberg Stadtgespräch. Bürger rufen im Rathaus oder bei der Zeitung an, sorgen sich angesichts der eisigen Temperaturen um den Mann. Auf Facebook wird die Frage gestellt, warum ihm niemand helfe. Warum sucht er sich kein Zimmer im Karl-Wagner-Haus?

Vergangene Woche berichtete die Erste Stadträtin Marion Götz über den Fall. Der Mann hat sein Lager in der Haagstraße unter der Lärmschutzwand zwischen City-Parkhaus und Kleiner Unterführung errichtet. Nach dem Bau der Lärmschutzwand fiel der Gehweg weg, ein Vorsprung entstand. Hier steht und liegt alles, was nicht niet- und nagelfest ist: Fahrrad, Wäschegestell, Wandspiegel, Einkaufswagen, vollgestopfte Plastiktüten. Hin und wieder stehen Plastikkanister, mit denen die Zeltplanen gehalten werden, auf der Straße. Das ist gefährlich. Die Stadt hat die Sache der Deutschen Bahn gemeldet. Möglich, dass bald geräumt wird.

In Friedberg kümmern sich Streetworker des Karl-Wagner-Hauses um Obdachlose. Die Einrichtung ist bei Wohnsitzlosen bekannt, ebenso die neue Dependance, das „W15“ im Wartfeld 15 an der Kaserne.

Lusia Schellschläger, Leiterin des „W15“, sagt, hin und wieder meldeten sich Bürger telefonisch. Meist Mitarbeiterinnen von Banken, weil sich ein Obdachloser im Eingang bei den Geldautomaten ausbreitet und Kunden anpöbelt.

Wie die beiden Streetworker Birgit Pflügel und Thomas Ebner weiß Schellschläger: Man kann nicht über andere Menschen bestimmen. Man kann Kontakt aufbauen, Vertrauen herstellen, Hilfe anbieten. Nur zwingen kann man niemanden. „Es fällt keiner vom Tellerrand“, sagt Pflügel. Sie und Ebner machen den Job seit über 20 Jahren, haben Dinge gesehen, bei denen andere lieber wegschauen. „Das muss man aushalten.“

Menschen, die auf der Straße leben, haben oft psychische Probleme, wurden Alkoholiker, weil sie mit den Anforderungen des Lebens nicht mehr klarkommen. Nicht jede Hilfe ist dann sinnvoll. So war es bei dem Mann, der wochenlang unter einer Brücke lebte und diesen düsteren Ort nicht verlassen musste, weil er von Nachbarn mit Lebensmitteln versorgt wurde. Oder der Mann, der 14 Tage lang in einer Bushaltestelle campierte. Auch er wurde gut versorgt. Die Bushaltestelle war nachher völlig verdreckt und stank nach Exkrementen.

„Diese Menschen kommen nicht mehr mit den gesellschaftlichen Strukturen zurecht“, sagt Pflüger. Irgendwann merken sie: Ich passe da nicht mehr rein. Und entwickeln eine Sammelwut. Als „Hausrat“ kann man das Sammelsurium unter der Lärmschutzwand nur schlecht bezeichnen. „Der Sammeltrieb hat überhand genommen“, sagt Ebner. Immer mehr Dinge kamen in den letzten Wochen hinzu. Zuvor nächtigte der Obdachlose in der Nähe des Erasmus- Alberus-Hauses, seine „Materiallager“ waren in der näheren Umgebung verteilt. „Diese Menschen haben eine andere Wahrnehmung von sich“, sagt Pflügel. „Wir sollten ihren Lebensstil akzeptieren.“ Aufgabe der Streetworker sei es, rechtzeitig einzuschreiten, um Schlimmeres zu verhindern. Denn schnell werden Obdachlose zum Problem. Pflüger erinnert an die Wohnsitzlosen, die sich auf der Treppe hinterm Joh niedergelassen hatten, Passanten belästigten und volltrunken ihre Notdurft vor Ort verrichteten. Es gebe aber auch positive Beispiele. Menschen, die nach Monaten in der Obdachlosigkeit ein Zimmer im Karl-Wagner-Haus bewohnen und langsam wieder Fuß fassen.

„Man muss sich das Leid anderer Menschen nicht zu eigen machen, muss nicht missionieren.“ Streetworker seien keine Pädagogen, sie erziehen nicht. Statt mit Vorschriften kommen sie mit der Thermoskanne. „Begleitung auf niedrigem Niveau“ nennt Ebner das. Von Kalle weiß er zu berichten, dass es ihm so weit gut gehe. „Der sitzt in der Sonne und genießt das Leben.“

Wie die fünf Pichelbrüder und -schwestern, die anderntags vor der Stadtkirche ihren Frühschoppen genießen. Der Alkoholpegel ist noch niedrig, alle sind nett und gesprächig. Einer aus der Gruppe ist wohnsitzlos. „In Friedberg gibt es vielleicht eine Handvoll Obdachlose“, schätzt er. Die Kälte? „Ist schlimm. Muss man aushalten.“ Es klingt nicht heroisch, eher fatalistisch. Er sei ein Punk und brauche seine Freiheit, sagt er.

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Die Streetworker Luisa Schellschläger, Birgit Pflügel und Thomas Ebner vom „W15“. Wagner © Jürgen Wagner

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