„Wieso, weshalb, warum“: Wie ein Hesse die »Sesamstraße« nach Deutschland holte
Die »Sesamstraße« in Deutschland ist 50 geworden. Der Bad Nauheimer Prof. Gerd Iben hatte den Anstoß dafür gegeben, dass die Sendung aus den USA den Weg in deutsche Wohnzimmer fand.
Bad Nauheim – Der, die, das - wer, wie, was - wieso, weshalb, warum - wer nicht fragt, bleibt dumm«: Generationen deutscher Kinder kennen das Titellied der »Sesamstraße«. Anfang Januar wurde die Kultsendung des deutschen Kinderfernsehens 50 Jahre alt. Die erste Verhandlung mit dem New Yorker »Television Work Shop« führte ein Bad Nauheimer: Gerd Iben, später Professor am Institut für Sonderpädagogik des Fachbereichs Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt. Im Gespräch schildert er die Anfänge der Sonderpädagogik in Deutschland und berichtet über seinen Erstkontakt zur Sesamstraße.
Nach dem Lehramtsstudium bewarb sich Iben in Marburg um einen Platz in einem der ersten Lehrgänge für Sonderpädagogen; im Anschluss daran wurde er an einer Sonderschule angestellt. »In diese Sonderschule kamen eine ganze Reihe Schüler aus einer Obdachlosensiedlung, das war eine der schlimmsten in Deutschland«, schildert Iben die Situation Mitte der 1960er Jahre. Gemeinsam mit Studenten entwickelte er Ansätze für eine neue Art der Siedlungsarbeit. Die dort lebenden Menschen sollten nicht quasi von oben herab betreut, sondern auf Augenhöhe in die Suche nach Lösungen zur Veränderung ihrer Situation einbezogen werden.

„Sesamstraße“: Forschungsauftrag in den USA – später der Weg nach Deutschland
Zum Schlüsselereignis wurde ein von Iben verfasster Artikel in der »Zeit« über moderne Stadtentwicklung, der deutschlandweit Aufsehen erregte: Das Wohnungsbauministerium gab ihm einen Forschungsauftrag zur Fortsetzung seiner Studien. »Die Stadt Marburg wollte aber nicht mitmachen. Der Bürgermeister meinte zu mir, keiner von ihnen würde freiwillig diese Siedlung betreten«, erinnert sich Iben.
Nie um eine Lösung verlegen, gründete er einen Trägerverein und warb für den Vorstand Stadtverordnete unterschiedlicher Parteien an. Das Projekt wurde ein voller Erfolg und bald auch in und von der Stadt geschätzt. Geld vom Landeswohlfahrtsverband nutzte der Verein unter anderem zur Eröffnung einer »Spielstube« nach rheinländischem Vorbild, später wurde zusätzlich eine Sozialarbeiterin eingestellt.
Bald folgte ein zweiter Forschungsauftrag: »Ich wollte mir sechs Monate lang in den USA anschauen, wie sich durch kompensatorische Erziehung die schulische Leistung von Kindern aus sozial benachteiligten Familien verbessern lässt«, erzählt Iben.
Professor aus Bad Nauheim bringt „Sesamstraße“ nach Deutschland: Auf spielerische Art etwas beibringen
Im Winter 1969 zog der damals 37-Jährige mit Frau und zwei Kindern nach New York, fand durch Vermittlung eines Kollegen eine Wohnung am Morningside Drive, exklusiv, aber auch unweit des Stadtteils Harlem gelegen. »Meine Tochter war in der Grundschule die einzige Weiße. Ich bin immer wieder durch die Slums gewandert und habe mir dort die Gemeinwesenarbeit-Projekte angeschaut. Meine Kinder spielten auf der Straße, und mir fiel auf, dass alle Kinder um 18 Uhr nach Hause liefen. Ich fragte, warum, und erfuhr, dass es da eine Sendung speziell für Kinder gebe«, berichtet Iben. Er schaute sich die Sesamstraße an, die zu diesem Zeitpunkt gerade erst einige Wochen lief, und war begeistert: »Das war genau das, was ich wollte, Kindern auf spielerische Art etwas beizubringen, denn mein Ziel war immer die Armutsüberwindung.«
Iben handelte sofort, schrieb den Hessischen Rundfunk an und hatte Glück, denn in dieser Zeit gewann die »Sesamstraße« den Prix Jeunesse und damit schlagartig internationales Renommee. Aus dem folgenden »Bieterstreit« der deutschen Sender ging der Norddeutsche Rundfunk als Gewinner hervor und verantwortete für die folgenden Jahrzehnte die Adaption der »Sesamstraße« für das deutsche Publikum.
„Sesamstraße“: Professor aus Bad Nauheim im wissenschaftliche Beirat beim NDR
»Wir hatten dann einen wissenschaftlichen Beirat beim NDR für die Sesamstraße, und da brachten wir unsere etwas anderen Ideen ein. Die Amerikaner konzentrierten sich stark auf das Alphabet, wegen der hohen Analphabetisierung in den Slums, aber ich wollte auch soziales Lernen integrieren. Das haben die deutschen Produzenten eingesehen«, betont Iben.
20 Jahre lang begleitete er so in monatlichen Sitzungen die Arbeit des »sehr aufgeschlossenen Produktionsteams«, bis der Beirat aus finanziellen Gründen eingestellt und die »Sesamstraße« mit teilweise verändertem Konzept weitergeführt wurde. Ihre Faszination hat sie bis heute nicht verloren und in Sendungen wie »Rappelkiste«, »Löwenzahn« oder »Quarks« zudem zahlreiche Abkömmlinge gezeugt, an denen Iben in der Startzeit ebenfalls mitgewirkt hat. (Hedwig Rohde)
Zur Person
Prof. Gerd Iben, 1932 in Bad Nauheim als Sohn des Zahnarztes Hans Iben geboren, machte nach dem Krieg eine Ausbildung als Landwirt, bevor er das Abitur nachholte und ein Lehramtsstudium absolvierte. Parallel dazu betreute er als Jugendleiter der evangelischen Kirche in Darmstadt straffällig gewordene Jugendliche und hatte damit seinen roten Faden gefunden: Das Engagement für sozial und gesellschaftlich Benachteiligte, insbesondere für Obdachlose, bestimmte seinen weiteren Lebensweg. Iben ist verheiratet, zweifacher Vater, begeisterter Musiker, Reiter und Kanufahrer. Er lebt in Wisselsheim und hat jahrelang ehrenamtlich an zahlreichen sozialen Initiativen mitgewirkt.