Attentat von Hanau: „Die Bilanz ein Jahr nach den Morden ist ernüchternd“

Den Angehörigen der Opfer geht es schlecht, sagt Liisa Pärssinen im Interview. Sie betreut die Menschen, die von dem rassistischen Anschlag vom 19. Februar in Hanau betroffen sind.
Frau Pärssinen, nach den Morden von Hanau war die Anteilnahme groß, es gab ein, wie ich finde, sehr würdiges Gedenken mit höchsten Repräsentanten des Staats. In der Stadt ist das Gedenken noch immer sichtbar, die Opfer wurden postum mit der Ehrenplakette geehrt, ein Mahnmal soll entstehen. Wie passt das zusammen mit der Aussage von Angehörigen, sie bekämen keine Unterstützung und es gehe ihnen wesentlich schlechter als kurz nach der Tat?
Die Anteilnahme war in der Tat groß, es waren viele Menschen vor Ort und haben gesprochen, viele Politiker und Politikerinnen. Man muss dazu sagen, dass die Morde von Hanau der schwerste rechtsterroristische Anschlag seit langer Zeit waren, die Aufmerksamkeit war hoch. Auf Worte müssen auch Taten folgen.
Und die gibt es nicht?
Sehr bald nach dem 19. Februar kam Corona, und viele haben Hanau sehr schnell wieder vergessen. Die Pandemie hat sehr viel Aufmerksamkeit gebunden.
Wie sieht Ihr persönlicher Kontakt mit den betroffenen Menschen in Hanau aus?
In der Regel sind zwei Mal die Woche Berater:innen in Hanau, treffen Menschen bei sich zu Hause oder in Beratungsräumen. Wegen des Lockdowns mussten die meisten Kontakte zeitweise über Video-Calls und Telefonate stattfinden, wie das auch aktuell wieder der Fall ist. Aber es gibt auch noch einige wenige direkte Treffen, wo das anders nicht möglich scheint.
Mit wem reden Sie?
Die Betroffenen sind eine große Gruppe, es sind die Angehörigen der Getöteten, es sind Überlebende und deren Familien, es sind Augenzeugen und Ersthelferinnen und deren Angehörige, zusammen mindestens 60 Menschen, wobei sicher noch nicht alle mit uns Kontakt aufgenommen haben, die durch die Tat traumatisiert sind oder mit anderen Akteuren in Kontakt stehen, wie zum Beispiel der Initiative 19. Februar.
Sind die Nöte für alle die gleichen?
Natürlich brauchen alle seelische und psychische Unterstützung, die meisten aber haben auch ganz unmittelbare existenzielle Nöte, weil sie nicht wissen, wie sie ihr Leben finanzieren sollen. Ganz viele können nicht mehr arbeiten gehen, haben große finanzielle Sorgen. Viele können nicht mehr richtig schlafen, bekommen die schrecklichen Bilder nicht mehr aus dem Kopf. Die traumatischen Erlebnisse steckt man nicht eben so weg, das dauert lange, viel länger als ein Jahr. Denken Sie an das Attentat auf dem Oktoberfest in München. Das ist mehr als 40 Jahre her und dort gibt es immer noch Menschen, die noch heute Hilfe benötigen. Das ist nicht nach einem Jahr erledigt.
Neben der Hilfe, die unter anderem von Ihnen mit der Beratungsstelle Response kommt, gab es keine Unterstützung?
Doch schon. In Hanau gab es viel Unterstützung von Akteuren vor Ort. Die Stadt Hanau hat finanziell geholfen, etwa indem sie einen Teil der Beerdigungskosten übernommen hat. Es gab auch Entschädigungsleistungen vom Bundesamt für Justiz für Familien der Opfer und Überlebende von terroristischen Anschlägen. Die kamen auch recht schnell, schon im Frühjahr, doch das sind Einmalleistungen gewesen, die auch irgendwann aufgebraucht sind. Viele sind ja auf unbestimmte Zeit selbst nicht mehr arbeitsfähig, sind in Sozialleistungen gerutscht. Bei manchen Familien sind jene tot, die das Einkommen gesichert haben. Es wird kein Leben wie vor der Tat geben. Die Menschen können lernen, mit der Tat zu leben, aber das braucht Zeit. Und man braucht dafür einen freien Kopf, den man nicht hat, wenn man sich um das finanzielle Überleben sorgen muss. Es braucht also eine finanzielle Absicherung, damit die Traumata bearbeitet werden können. Wir von Response wissen übrigens auch noch nicht, ob und wie das Land unsere Beratungsarbeit vor Ort und die Unterstützung der Opfer und Angehörigen von Hanau langfristig absichern will.
Das Land Hessen hat einen Opferfonds mit zwei Millionen Euro eingerichtet. Was bringt der?
Dieser Fonds ist für alle Opfer von Gewalttaten gedacht. Also nicht nur für die Opfer und Betroffenen von Hanau, sondern auch für Opfer der Amokfahrt von Volkmarsen. Damit geht die politische Dimension verloren. Ein rassistischer Angriff ist immer eine Botschaftstat und trifft nicht nur einzelne Menschen, sondern soll immer eine ganze Gruppe von Menschen treffen. Politiker:innen müssen sich glaubhaft an die Seite von Betroffenen von rechter Gewalt stellen. Rechte Netzwerke und potenzielle Täter könnten sich bestärkt und ermutigt fühlen.
Sollen Opfer von rechtsterroristischer Gewalt anders behandelt werden als die Opfer anderer, gewöhnlicher Gewalttaten?
Opfer von Gewalttaten haben dieselben finanziellen Probleme, egal welche Art von Gewalt das war. Sie alle benötigen Unterstützung. Es ist aber nötig hervorzuheben, dass rechte Gewalt häufig von organisierten und ideologisierten Tätern ausgeübt wird. Wir haben gerade in Hessen ein großes Problem mit Rechtsterrorismus, das sollte auch bei einem solchen Fonds deutlich werden. Sonst fühlen sich jene, die von diesen Terroristen angegriffen werden, von der Politik alleingelassen.
Wenn man den Angehörigen zuhört, wird immer wieder der Ruf nach Gerechtigkeit laut. Wie könnte die aussehen?
Gerechtigkeit heißt, dass die Tat und alles, was damit zu tun hat, aufgeklärt wird. Aber das ist bisher nicht geschehen, und vieles mussten die Betroffenen selbst in die Hand nehmen, damit die Dinge ans Tageslicht kommen. Weder ist die Aufarbeitung der Tat passiert, noch gab es bisher eine ausreichende finanzielle Unterstützung. Die Familien müssen so laut sein. Wenn die Betroffenen nicht auf sich aufmerksam machen, dann macht es niemand für sie.
Was wurde erreicht?
Dass die Getöteten nicht vergessen wurden, dass Menschen noch immer ihre Namen kennen. Das ist sehr wichtig, weil die Getöteten bei früheren Taten oft in Vergessenheit geraten sind. Und die Betroffenen haben es geschafft, sich gegenseitig beizustehen. Aber sonst ist die Bilanz, gerade auch im Kampf gegen Rassismus und rechtsterroristische Ideologien, doch sehr ernüchternd.
Interview: Peter Hanack
