Streit um Silvester mit der Schreckschusspistole

Sind drei junge Männer Silvester-Knallfrösche oder Opfer von Polizeigewalt? Das Amtsgericht Frankfurt sucht nach Antworten.
Auf den ersten Blick wirken Amir H. (25), Lars D. (26) und Manuel M. (25) wie Gestalten, denen man nicht im Dunklen begegnen will – und im Hellen erst recht nicht. Sie wirken genau wie die Sorte Mensch, wegen denen niemand, der noch bei Trost ist, Silvester am Eisernen Steg verbringt.
Dazu passt auch die Anklage, die auf Verstoß gegen das Waffengesetz und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte lautet. Die geht so: Den Jahreswechsel 2015/2016 feiern die drei mit vielen Cousins, Brüdern und Ähnlichem am Eisernen Steg auf ihre ganz eigene Art und Weise. Sie zielen mit einer Schreckschusswaffe auf Passanten, feuern Raketen ab, brüllen „Isis ist überall“ – Isis war der gängige Name der Terrormiliz, die man heute als IS kennt. Ein kleines Mädchen fängt vor Angst an zu weinen, der Vater ruft die Polizei. Die trifft auf Passanten, die die Aussage des Vaters bestätigen, und erwischen Amir H. in flagranti, wie er auf Passanten anlegt. H. versucht zu flüchten und widersetzt sich der Festnahme. Lars R. und Manuel M. bauen sich vor der Polizistin und ihrem Kollegen auf und drohen, denen „in die Fresse zu hauen“, wenn sie nicht sofort ihren Kumpel freiließen. Die Polizisten rufen Verstärkung, es wird handgreiflich.
Die zweite Version der Story
Die drei Angeklagten erzählen eine andere Geschichte: Man habe friedlich im Kreise vieler Lieben das neue Jahr am Eisernen Steg begrüßen wollen, mit buntem Feuerwerk, abgeschossen aus der Schreckschusspistole und ohne Lobpreisung einer Terrormilizen. Kurzzeitig weint ein kleines Mädchen vor Schreck, aber Amir H. zeigt ihr die Waffe, erläutert, dass es sich um eine Schreckschusspistole handele, die ganz lieb sei, und zaubert so wieder ein Lächeln auf das Gesicht der Kleinen. Bei den Eltern klappt das leider nicht.
Kurz darauf werden die drei ebenso grundlos wie brutal von der Polizei angegriffen. Die Beamten ringen sie zu Boden, fesseln Hände, treten und schlagen sie ins Gesicht, obwohl sie laut ihre Unschuld beteuern und um Gnade flehen. Passanten, die versuchen, die Gewaltorgie der Polizei zu stoppen, werden von den Polizisten bestenfalls mit „Halt’s Maul!“ abgefertigt, schlechtestenfalls ebenfalls ins Gesicht geschlagen. Aber wie durch ein Wunder erstattet niemand der misshandelten Zeugen Anzeige gegen die Polizei, und auch die jetzt Angeklagten sehen davon ab. Erst am Verhandlungstag beschließen sie, die wahre Geschichte in all ihrer Schrecklichkeit zu erzählen. „Uns hätte ja doch keiner geglaubt“, erklärt der Bruder von Amir H. im Zeugenstand das bisherige Schweigen der Unschuldslämmer.
Wenn er sich da mal nicht geirrt hat: Nach einem der längsten und quälendsten Prozesstage in der Geschichte des Amtsgerichts wird beschlossen, dass die neun gerade vernommenen Zeugen nicht genügen. Zum nächsten Termin soll nun auch der Familienvater, der die Polizei gerufen hatte, vernommen werden und aus Hamburg anreisen, denn „die einen sagen so, die anderen so“, stellt der Amtsrichter fest, und die Wahrheit müsse ja irgendwo mittenmang liegen. Ein Fortsetzungstermin wird erst am Abend gefunden, denn Lars R. plant einen längeren Urlaub, und Amir H. hat noch einen größeren Landgerichtsprozess wegen Einbruchsdiebstahls am Hals.
Mittlerweile hat sich das Verhalten der drei nach eigenen Angaben einstmals sanftmütigen und schmusewolligen jungen Männer aber – möglicherweise durch Traumatisierung – stark verändert. In einer Verhandlungspause versucht Lars D., einem Pressefotografen die Kamera aus der Hand zu schlagen. Sein Verteidiger findet dieses Verhalten völlig normal und entblödet sich nicht, dem protestierenden Fotografen ein „Lügenpresse!“ entgegenzublöken. So bringt der erste Verhandlungstag lediglich eine Erkenntnis: Der IS ist vielleicht noch nicht überall – die AfD aber schon.
Bei einem anderen Prozess in Frankfurt steht ein Mann vor Gericht, der einem anderen ins Bein geschossen hat. Ein Streit um Politik eskalierte.