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Solidarität lässt Hoffnung bei Lkw-Fahrern wachsen

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Von: Pitt von Bebenburg

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Gräfenhausen, 12.04.2023
Fahrer bereiten die Solidaritätskundgebung in Gräfenhausen vor © Michael Schick

Streikende Trucker am Rastplatz Gräfenhausen erhalten Unterstützung von Gewerkschaften, Verbänden, dem Arzt Gerhard Trabert – und von Menschen aus der Umgebung.

Es kommt nicht alle Tage vor, dass ein georgischer Gewerkschaftsführer zu einer Streikversammlung von Lkw-Fahrern auf einer hessischen Autobahnraststätte spricht. Aber vieles von dem, was sich seit drei Wochen auf der Raststätte Gräfenhausen-West an der A5 abspielt, ist nicht alltäglich: dass Fahrer sich trauen, gegen vorenthaltenen Lohn zu demonstrieren; dass sie Unterstützung aus Politik, Gewerkschaften und der Bevölkerung erhalten; dass ein Unternehmer mit einem Schlägertrupp aufkreuzt, um – vergeblich – zu versuchen, den Streik gewaltsam zu beenden und dass ein solcher Fall international Wellen schlägt.

60 Lastwagen

Am Mittwoch also preist Irakli Petriashvili, der Präsident des georgischen Gewerkschaftsbunds, mitten im Regen vor etwa 60 Landsleuten den internationalen Zusammenhalt. „Solidarität hat die Kraft, etwas zu verändern“, zeigt er sich überzeugt. Petriashvili steht unter einem blauen Schild, das Lkw-Parkplätze signalisiert. Die Farbe passt: Fast alle der rund 60 Lastwagen mit polnischen Kennzeichen, die hier dicht an dicht abgestellt sind, haben eine blaue Lackierung. Seit drei Wochen stehen sie hier.

Solidarität ist das Wort der Stunde. Bereits seit zwei Wochen ist das DGB-Beratungsnetzwerk „Faire Mobilität“ vor Ort, um die Männer zu unterstützen. Der Niederländer Edwin Atema, der das internationale Team der Gewerkschaft FNV leitet, ist ebenfalls von Beginn an dabei. Er ist beauftragt, mit dem polnischen Unternehmer Mazur über die Zahlung der ausstehenden Löhne zu verhandeln.

Martialische Truppe

Doch bisher bewegt sich sein Gegenüber nicht, sondern schickte stattdessen am Karfreitag die martialische Gruppe der „Rutkowski Patrol“, um die Streikenden einzuschüchtern und die Lkws wegzufahren. Die Polizei verhinderte eine Eskalation, gegen die polnischen Angreifer wurden Verfahren eingeleitet. Die Lastwagen blieben in Gräfenhausen.

Atema setzt sich schon seit Jahren gegen das Sozialdumping bei osteuropäischen Fahrerinnen und Fahrern ein. „Was hier passiert ist, passiert jeden Tag“, sagt er. Nur dass sich die Betroffenen selten so öffentlichkeitswirksam wehren wie auf dem hessischen Rastplatz.

Vom lokalen DGB ist Gewerkschaftssekretär Horst Raupp gekommen. Er setze auf einen Erfolg der Streikenden und dann auf einen „Leuchtturmeffekt“, der auf viele andere Speditionen ausstrahle, sagt der Mann von der DGB-Region Südhessen.

„Kein Einzelfall“

Nicht nur Gewerkschafter unterstützen die Streikenden, sondern auch ein wichtiger Wirtschaftsverband. Dirk Engelhardt, Vorstandssprecher des Bundesverbands Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung (BGL), tritt nicht weniger kämpferisch auf als die Arbeitnehmervertreter:innen. „Diese Zustände sind kein Einzelfall“, sagt er den Journalistinnen und Journalisten, die am Mittwoch zahlreich gekommen sind. Das Lohndumping in manchen Teilen der Branche, Engelhardt spricht von „modernem Sklaventum“, gehe auch auf Kosten des „deutschen Mittelstands, der sich an Gesetze hält“. Der Verbandschef verlangt deutlich intensivere Kontrollen.

Ursprünglich gab es parallele Streiks von Lkw-Fahrern mit ausstehenden Löhnen der Mazur-Unternehmen auch in der Schweiz und Italien. Doch diese Gruppen haben sich aufgelöst. Viele der Fahrer sind von dort nach Gräfenhausen gekommen, um sich dem gemeinsamen Ausstand anzuschließen. So wie Zurad Balukhashvili.

Familie in Georgien

Der 50-jährige Georgier ist seit mehr als zwei Jahrzehnten als Trucker international unterwegs – in Frankreich, Österreich, der Schweiz und Deutschland. Seit zwei Monaten hat er seine Familie in der georgischen Hauptstadt Tiflis nicht mehr gesehen, seine Frau, seine beiden Kinder und seine Enkel. Stattdessen fuhr Balukhashvili Lebensmittel und Baumaterial in seinem Truck quer durch Europa.

Nun steht er am Mittwoch im Regen – wortwörtlich. Auf Bitte des Fernsehteams hat er während des Interviews den Regenschirm weggelegt. Nun prasseln die Tropfen auf den Mann, der sich dadurch nicht in seiner Entschlossenheit stören lässt. Er gibt ein Sinnbild für die Lage der Streikenden ab. Als das Interview vorüber ist, bittet Balukhashvili das Team nochmals zurück. Ihm liegt daran, noch in die Kamera zu sagen, wie wichtig der Druck sei, den Weltunternehmen wie VW, Mercedes oder Bosch auf die von ihnen beauftragten Transportunternehmen ausüben könnten.

Arzt Trabert untersucht Lkw-Fahrer

Auch Gerhard Trabert ist an diesem Mittwoch gekommen, der Mainzer Arzt und Professor für Sozialmedizin, der seit Jahren Bedürftigen ohne Krankenversicherung mit seinem Arztmobil hilft. Den 66-Jährigen, der bei der Wahl zum Bundespräsidenten im vorigen Jahr von der Linken nominiert worden war, hat deren Parteivorsitzende Janine Wissler alarmiert.

Nun untersucht er einige der Männer, viele haben starke Rückenschmerzen oder brauchen einen Zahnarzt. Einige hatten bereits in den vergangenen Tagen mit Hilfe der Gewerkschaften Ärzte in der Region aufgesucht. Keiner von ihnen verfügte über die notwendige Krankenversicherungskarte; behandelt wurden sie trotzdem.

Kein Wort fällt an diesem verregneten Vormittag so häufig wie das von der Solidarität. Es steht auf dem roten Transparent, das der DGB auf der improvisierten Streikbühne aufgehängt hat: „Solidarität ist stärker“. Doch es gibt auch Szenen der praktischen Solidarität zu beobachten.

Lebensmittel abgegeben

Michael Paasch war selber früher als Trucker unterwegs. Er kennt die prekären Arbeitsbedingungen in dem Gewerbe nur zu gut. Jetzt ist der 60-Jährige mit der blauen Jacke und der schwarzen Schirmmütze aus dem 40 Kilometer entfernten Schaafheim hergekommen, um die Streikenden mit frischen Brötchen, Konserven und Küchenpapier zu versorgen. Er lädt seine Lebensmittelkiste auf einen der blauen Lastwagen, dessen Ladefläche zu einem improvisierten Esszimmer umgewidmet wurde, mit metallenen Platten als Tisch. Drinnen essen Männer schweigend ihre Käsebrote.

Sie haben eine Petition an die deutsche und die polnische Regierung unterschrieben mit dem Ziel, Lukasz Mazur zum Zahlen des ausstehenden Geldes zu bewegen. In Tiflis wollen georgische Gewerkschaftskollegen die Forderung am selben Tag in der polnischen Botschaft abgeben.

Optimistischer Gewerkschafter

In Gräfenhausen spricht derweil Irakli Petriashvili. Der georgische Gewerkschafter zeigt sich optimistisch, dass die Fahrer des großen polnischen Speditionsunternehmens Lukmaz und seiner Schwesterfirmen ihre ausstehenden Löhne erhalten, die unter „mittelalterlichen“ Bedingungen beschäftigt würden. Doch Petriashvili blickt über den Einzelfall hinaus. Er will ebenso wie die deutschen Gewerkschaften die verbreitete Ausbeutung auf Europas Straßen beenden. „Wir kämpfen für einen europäischen Standard“, betont er.

Neugierige Reisende und Lkw-Fahrer anderer Firmen fahren im Schritttempo an der Versammlung vorbei. „Gönn Dir eine Pause“, wirbt ein Schild am Schnellrestaurant der Raststätte. Doch an eine Pause denken die Männer hier nicht. Sie zeigen sich entschlossen, so lange zu bleiben, bis ihre Forderungen erfüllt werden. Und dann? Er werde auf die Suche nach einer anderen Firma gehen, die ihn als Fahrer beschäftige, sagt Zurab Balukashvili. Auch dann werden Männer aus Georgien die Menschen in Hessen und anderen Teilen Europas mit allem versorgen, was sich auf Lkws laden lässt. Aber vielleicht, so die Hoffnung, zu besseren Arbeitsbedingungen.

Gräfenhausen, 12.04.2023
Streikende Fahrer mit georgischer Flagge in Gräfenhausen © Michael Schick

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