1. Startseite
  2. Rhein-Main

Scharfe Kritik an Reform

Erstellt: Aktualisiert:

Kommentare

Neues Leitsystem für Notrufe stößt auf viel Unmut

Hochtaunus - Auf der einen Seite groß gelobt, auf der anderen strikt abgelehnt. Die sogenannte Reform der Notfallversorgung im Gesundheitswesen wird diskutiert wie kaum ein anderes Thema. Um was geht’s eigentlich? Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat Anfang November das Konzept vorgestellt.

Wer derzeit die 112 wählt, landet in der Leitstelle. Die dort sitzenden medizinischen Fachleute versuchen im Gespräch abzuklären, ob es sich tatsächlich um einen Notfall handelt, der einen Rettungswagen benötigt, einen Notarzt oder ob die Schnittverletzung durchs Apfelschälen auch am nächsten Tag vom Hausarzt behandelt werden könnte. Aber: Im Zweifel kommt der Rettungswagen - aber dazu später mehr.

Niedergelassene Ärzteschaft einbinden

Was nun als stärkste Änderung geplant ist: Niedergelassene Ärzte werden in dieses System eingebunden. Dafür müssen für das Modellprojekt SaN (Sektorenübergreifende ambulante Notfallversorgung) der ambulante und der stationäre Sektor sowie die Rettungsdienste verzahnt werden.

Das Modellprojekt besteht aus drei Elementen: Erstens werden die Leitstellen des Rettungsdiensts und der Kassenärztlichen Vereinigung technisch miteinander verknüpft. Zweitens werden die Partnerpraxen an das Klinikkapazitätsplanungssystem IVENA angeschlossen. Drittens wird eine Software eingeführt, mit der eine einheitliche medizinische Ersteinschätzung der Fälle durchgeführt wird. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach will also, dass Notfallpatienten beim Anruf bereits eingeschätzt werden, eventuell auch „telemedizinische“ Hilfe erhalten und von den Fachleuten am Telefon entweder in eine Praxis gesandt oder in eine Klinik gebracht werden - je nach Einschätzung. Diese integrierten Notfall-Zentren bestehen dann aus der Notaufnahme des Krankenhauses, einer Notfallpraxis sowie dem „Tresen“ - Leitstelle - als zentrale Entscheidungsstelle.

Was der Bund als große Neuerung verkündet, sieht Ärztekammerpräsident Dr. Edgar Pinkowski als „alten Wein in neuen Schläuchen“ und empfiehlt das in Hessen gängige System als bundesweite Blaupause. Denn bereits seit März 2022 sind im hessischen Modellprojekt „Sektorenübergreifende ambulante Notfallversorgung“ neue Strukturen zur Notfallversorgung gelebte Realität. „Das Modellprojekt wurde von Praktikern für Praktiker gemacht. Im Gegensatz zur Reform, die im Elfenbeinturm von Ministerium und beratenden Kommissionen entstanden ist“, betont Pinkowski.

Dass eine Reform notwendig ist, daran zweifelt niemand. Weder Kreisbrandinspektor Carsten Lauer - zuständig für die Leitstelle - noch Dr.Cornelius Gurlitt vom Notfallaufnahmezentrum der Hochtaunuskliniken. Denn überall sind die Kliniken überlastet, vor allem die Notaufnahmen. Nur die Ansätze für die Reform sehen anders aus.

Komplett bei den Kliniken ansiedeln?

Für Lauer ergibt die Reform nur Sinn, wenn auch der ärztliche Bereitschaftsdienst mit abgedeckt wird. Der springt derzeit ein, wenn der Hausarzt schon geschlossen hat und der medizinische Grund keinen Notarzt rechtfertigt - plötzliche Halsschmerzen beim Kind etwa. Und Dr. Gurlitt sieht auch die Möglichkeit, das komplette Szenario der Notfallversorgung gleich ganz bei den Kliniken anzusiedeln - dann mit eben dem zusätzlichen Personal und dem Geld, was derzeit für den Bereitschaftsdienst eingeteilt ist.

Und für beide Fachleute macht das alles sowieso nur Sinn, wenn die großen Personallücken geschlossen werden. Denn sowohl Fachärzte als auch Pflegepersonal sowie Rettungskräfte schieben bis zu 600 Überstunden vor sich her. Lauer sieht noch ein personelles Problem. „Mit dem Modell werden an den dann verknüpften Leitstellen Arbeitsplätze nötig. Wie sollen diese besetzt werden, wenn wir schon jetzt kaum die Schichten besetzt bekommen?“

Da Hessen sowieso schon ein anderes Modell als die anderen Bundesländer fährt, ist Lauer sicher, dass das Ganze nur funktioniert, wenn die bisher vorhandenen integrierten Leitstellen mit eingebunden werden. „Aber Dreh- und Angelpunkt bleibt das Fachpersonal. Kliniken, Bereitschaftsdienste, niedergelassene Ärzte und Rettungsdienste graben sich schon jetzt gegenseitig Personal ab.“ Und in Hessen schätzten die Disponenten der Leitstelle schon heute richtig ein, welcher Patient wie zu versorgen sei.

Eine richtige Breitseite gab’s für den Plan gar von der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen. Im Zentrum der Kritik: Diese sogenannten Integrierten Notfallzentren (INZ), die in allen Krankenhäusern der erweiterten und umfassenden Notfallversorgung (rund 420 Häuser in Deutschland) verpflichtend eingerichtet und die faktisch unter Krankenhausleitung gestellt werden sollen. Vorstandsvorsitzender Frank Dastych erklärt: „Für uns ist ganz klar: Das bisherige Kooperationsmodell in und mit den Kliniken und die spätere Überführung in die SaN-Strukturen sind ohne Alternative. Der Bereitschaftsdienst der Vertragsärztinnen und -ärzte bleibt in deren Verantwortung. Etwas anderes ist mit der KVH definitiv nicht zu machen.“

Denn: Die als „Notnagel“ ins Lauterbach’sche Konzept eingebundenen Ärztinnen und Ärzte leiden schon heute nicht unter Beschäftigungslosigkeit. Jeder zusätzliche Patient durchs neue System wirbelt den Plan durcheinander, Termin-Patienten stehen hinten an.

Die KV betont: „Es ist doch eine abstruse Vorstellung, dass KV-Mitglieder, die sich originär um ihre Patienten kümmern, in solchen Einrichtungen zusätzlich Zwangsdienste leisten sollen.“

Auch interessant

Kommentare