1. Startseite
  2. Rhein-Main
  3. Offenbach

Offenbacher: Eltern von autistischem Kind fühlen sich von der Stadt allein gelassen

Erstellt: Aktualisiert:

Von: Timur Tinç

Kommentare

Schulbusse werden bei der Beförderung von behinderten Kindern eingesetzt.
Schulbusse werden bei der Beförderung von behinderten Kindern eingesetzt. © Martin Weis

Eine Offenbacher Familie kämpft darum, ihren autistischen Sohn zur Schule bringen zu lassen. Die Stadt hat den Antrag auf Einzelbeförderung abgelehnt und verweist auf das Sozialamt. Der Inklusionsverein IGEL-OF hält das für rechtswidrig.

Jeder Morgen, an dem Frau Ender mit ihren zwei Kindern ohne größere Zwischenfälle den Weg in den Kindergarten und in die Schule zurücklegen kann, ist ein guter Morgen für sie. Frau Ender heißt eigentlich anders. Sie will aber nicht, dass ihr Name oder der ihrer Kinder in der Zeitung steht. Ihr jüngster Sohn, drei Jahre alt, geht in den Kindergarten. Ihr sechsjähriger Sohn, Murat (Name geändert), hat frühkindlichen Autismus in einer schweren Ausprägung und geht seit Sommer in die Fröbelschule mit Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung (GE).

Auf dem Schulweg bekommt Murat des Öfteren einen Anfall. „Er springt, stampft, schubst mich oder seinen Bruder. Manchmal tritt er auch Fremde. Oder er versucht abzuhauen. Er kann jederzeit ausrasten“, schildert Ender, der die Tränen in die Augen steigen. Da er auch für sein Alter recht groß und schwer ist, sei es für sie schwierig, ihn jedes Mal sofort zu beruhigen. Zumal sie auch auf den Dreijährigen achtgeben muss, dessen Kindergarten 1,5 Kilometer von der Schule entfernt ist. Da Enders Mann schon sehr früh zur Arbeit muss, kann er ihr nicht helfen.

Schon vor Schulbeginn hatte die Familie einen Antrag auf Einzelbeförderung für Murat bei der Stadt Offenbach gestellt. Der wurde jedoch abgelehnt, weil der „einfache Fußweg zwischen Wohnung und Schule unter der für Grundschüler gültigen Zwei-Kilometer-Regel gilt“. Der Schulweg beträgt rund 600 Meter. Diese Begründung ärgert Dorothea Terpitz, sie hält sie auch für rechtswidrig. Sie ist Vorsitzende von IGEL-OF, einem gemeinnützigen Verein für die Inklusion von Kindern und Jugendlichen im Bildungssystem für die Stadt und den Kreis Offenbach. „Der in den Bescheiden der Stadt Offenbach regelmäßig auftauchende Bezug zur Entfernung der Schule vom Wohnsitz des Kindes ist bei Kindern mit Behinderung unzulässig“, sagt sie und verweist auf das Hessische Schulgesetz (HSchG). Darin heißt es: „Unabhängig von der Entfernung kann die Beförderung als notwendig anerkannt werden, wenn der Schulweg eine besondere Gefahr für die Sicherheit und die Gesundheit der Schülerinnen und Schüler bedeutet oder eine Schülerin oder ein Schüler ihn aufgrund einer Behinderung nicht ohne Benutzung öffentlicher oder privater Verkehrsmittel zurücklegen kann.“ Im Fall von Murat wäre der Schulweg lebensgefährlich, weil er sich nicht selbst orientieren und auch nicht sprechen kann. „Ich lasse ihn nie irgendwo alleine hin“, sagt Ender. Auch eine Busfahrt will sie ihrem Sohn nicht zumuten, weil die Reize ihn überfordern würden.

Das Stadtschulamt verweist auf die Auswertung der förderdiagnostischen Stellungnahme der Schule. Für eine Einzelbeförderung müsse die Behinderung so stark sein, „dass der Schulweg nicht ohne Benutzung öffentlicher oder privater Verkehrsmittel zurückgelegt werden kann“. Dies sei im vorliegenden Fall nicht gegeben gewesen, schreibt Thomas Löhr, Leiter des städtischen Schulamts, auf FR-Nachfrage. Dorothea Terpitz hingegen sagt, dass der frühkindliche Autismus in schwerer Ausprägung von der Schule den Eltern hinreichend erläutert worden sei.

Löhr erklärt weiter: „Wenn die Eltern ihr Kind nicht in die Schule begleiten können, haben sie möglicherweise Anspruch auf Unterstützung, und zwar über das Sozialrecht.“ Das Stadtschulamt habe die Eltern in dem Bescheid darauf hingewiesen, sich mit dem Sozialamt, Sachgebiet Eingliederungshilfe, in Verbindung zu setzen, um dort die Anträge auf eine Teilhabeassistenz für den Unterricht zu stellen. „Einen Teil regelt das Schulgesetz, den anderen das Sozialgesetz“, so Löhr. Das Schulgesetz, erläutert Terpitz, regele den Schulweg, der in der Verantwortung des Schulträgers und nicht der Eltern liege. Das Sozialgesetz regelt die Teilhabe an Bildung. „Herr Löhr wälzt seine Verantwortung einfach ab und sorgt dafür, dass die Eltern letztlich zwischen allen Stühlen sitzen“, kritisiert Terpitz.

Das Problem besteht aus ihrer Sicht seit dem Jahr 2017. Da hatte die Stadt Offenbach beschlossen, die Regelungen des Schulwegs wieder analog zum Schulgesetz beim Stadtschulamt anzusiedeln. Vorher hatte das Sozialamt nicht nur die Kosten für die Teilhabeassistenz (THA) übernommen, sondern auch für die Einzelfbeförderung von Schülerinnen und Schülern. „Die Eingliederungshilfe kann man gemäß der aktuellen Rechtsprechung sicher darauf festnageln, die Teilhabeassistenz zu stellen“, sagt Terpitz. Diese müsste dann aber in einer Eins-zu-eins-Betreuung über den Schulalltag einschließlich Schulweg gestaltet sein. „Das würde dann richtig teuer für die Stadt Offenbach, und es würde in das Konzept der Schule eingreifen, die ja als Förderschule nur einen Pool von THA hat“, sagt Terpitz. Aus diesem Grund sei es hessenweit üblich, die Schüler:innen der Förderschulen für Geistige Entwicklung (GE) mit Bussen und Schülereinzelbeförderungen in die Schule und nach Hause zu bringen.

Frau Ender ist durch das Hin und Her erschöpft. Wenn ihr nur der Hin- und Rückweg zur Schule abgenommen werden könnte, würde ihr das das Leben schon ein ganzes Stück erleichtern. „Sie dürfen uns nicht in die Situation bringen, darum kämpfen zu müssen“, findet Ender.

Auch interessant

Kommentare