„Mein Vietnam“: Einblick in einen unsichtbaren Alltag

Tim Ellrich und Hien Mai erzählen in ihrem preisgekrönten Dokumentarfilm „Mein Vietnam“ von Bay und Tams Leben. Es geht um das Gefühl, nirgendwo heimisch zu sein.
Wenn abends die Büroräume menschenleer sind, knipsen Bay Nguyen und Tam Mai die Lichter an. Sie saugen, putzen, wischen Staub und fahren wieder nach Hause. Dort setzen sie sich an den Computer, telefonieren mit Verwandten oder singen in Chatrooms mit anderen Exilvietnamesen auf der ganzen Welt Karaoke. Es sind immer wiederkehrende Szenen des Dokumentarfilms „Mein Vietnam“, der am Donnerstag um 23.45 Uhr im SWR läuft und danach in der ARD-Mediathek abrufbar ist.
„Sie wischen den Tisch eines Menschen, der Teil der deutschen Gesellschaft ist und Leute trifft, aber sie nicht“, sagt Tim Ellrich. Der 32-Jährige hat den Film mit seiner gleichaltrigen Lebenspartnerin Hien Mai gemacht. Sie leben zusammen in Offenbach. Bay und Tam sind die Eltern von Hien Mai. Sie sind 1990 aus Vietnam nach Deutschland geflohen und haben ihre Tochter zunächst für verrückt erklärt, einen Film über sie machen zu wollen. Da sie aber die Kamera durch ihre Chatrooms gewöhnt sind, sagten sie irgendwann zu. „Zwischen den Welten zu sein, geflüchtet zu sein – das hat mich immer schon beschäftigt“, erzählt Mai. Die gebürtige Münchnerin, die in Frankfurt Kunstgeschichte und Kunstpädagogik studiert hat, hatte schon immer das Bedürfnis, die Geschichte ihrer Eltern zu erzählen. „Erst gab es physische Freunde, die kamen“, berichtet Mai. Zunächst wurde zu Hause gemeinsam gesungen, irgendwann habe sich das in die digitale Welt verlagert. „Das ist ihr Sozialkonstrukt“, sagt Mai.
Tim Ellrich hat Vater Tam und Mutter Bay im Jahr 2014 kennengelernt. Dabei hat er gesehen, dass beide sehr viel online sind, was er beeindruckend fand, weil man in der Regel jüngere Menschen erwartet. „Das war ein guter Weg, darüber die Geschichte zu erzählen“, sagt Ellrich, der in Wien Filmwissenschaften und Philosophie studiert hat. Seine Abschlussarbeit, der Kurzfilm „Die Badewanne“, gewann im Jahr 2016 auf dem Festival du Court-Métrage de Clermont-Ferrand den Hauptpreis.
Derzeit studiert der gebürtige Osnabrücker szenischen Film an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Ursprünglich sollte „Mein Vietnam“ ein 20-minütiger Kurzfilm werden, herausgekommen ist nach zweieinhalb Jahren Drehzeit und weiteren eineinhalb Jahren der Nachbereitung ein 70-minütiger Film.
Mai und Ellrich sind immer wieder für zehn bis 13 Tage nach München gefahren, wo Bay und Tam leben. Es gibt keine Interviews, keine erklärenden Einspieler, Hintergrundmusik. „Du musst nicht alles erzählen, weil es dann zu einem zu speziellen Fall wird und seine Allgemeingültigkeit verliert“, findet Ellrich. Er bedient die Kamera, die immer an einem festen Platz steht und einfach als stiller Begleiter mitläuft. Verstanden hat er von den Konversationen nichts, da Bay und Tam nur Vietnamesisch sprechen. Hien Mai musste 80 Stunden Videomaterial übersetzen, ehe daraus der Film geschnitten werden konnte.
„Der Ort, wo sie sind, könnte überall sein, weil sie nicht wirklich rausgehen“, sagt Mai. Der Alltag von Bay und Tam ähnele dem vieler Menschen der ersten Einwanderergeneration. „Irgendwie steht immer die Frage im Raum, ob man zurückkehren soll“, sagt Mai. Ihre Eltern besitzen noch ein Haus in Vietnam. Es ist vor allem für ihren Vater ein Strohhalm, an den er sich klammert, um irgendwann vielleicht doch wieder in die ale Heimat zu gehen. „Aber eigentlich werden sie nie zurückkehren“, sagt Mai. Vor allem Bay will sich nicht von ihren Kindern und dem Enkelkind trennen.
Tam hingegen fühlt sich einsam und trinkt sehr viel Bier, wenn er zu Hause ist. „Er trinkt es, weil er zerrissen ist, weil er verstimmt ist, weil er sich nirgendwo zugehörig fühlt“, erklärt Ellrich.
Im Juni ist der Dokumentarfilm mit dem Nachwuchspreis, dem First-Steps-Award, ausgezeichnet worden. „Wir haben gerade von Menschen der zweiten und dritten Generation sehr emotionales Feedback bekommen. Viele haben gesagt: Meine Eltern leben genauso“, erzählt Mai.
Sie ist auf die Reaktionen gespannt, wenn der Film nun einem größeren Publikum zur Verfügung steht.
