Im Sortiment fehlen 120 Medikamente
Trotz der Lieferengpässe sagt Apothekerin Simone Tschugg: „Irgendetwas kriegt man immer“
Flörsheim - Apothekerin Simone Tschugg hat Medikamente immer so bestellt, dass ihre Vorräte für einen Monat reichen. Eine solche Voraussicht ist aber schon länger nicht mehr möglich. Wenn Kunden in der Bahnhofsapotheke ein Rezept vorlegen, muss die Inhaberin mittlerweile Alternativen finden. Denn in Medikamentenschränken der Bahnhofsapotheke fehlen rund 120 Positionen. Es gebe eine lange Liste von dringend benötigten Arzneimitteln, berichtet die Apothekerin. Solche Lieferengpässe habe sie in ihrer 22-jährigen Berufslaufbahn noch nicht erlebt. Schmerzmittel, Hustensaft, und sogar Blutdruckmittel kommen nicht mehr nach. Die bundesweite Online-Datenbank Pharmanet-Bund.de hat 473 Lieferengpässe für Medikamente aufgelistet. „Ibuprofensäfte hamstern wir“, erläutert Simone Tschugg. Bei ihren Lieferanten schlage sie zu, sobald es etwas gibt. Doch auch damit lässt sich der grundsätzliche Mangel nicht einfach beheben. Momentan gebe es kein Penicillin - weder als Saft, noch in Tablettenform. Von Lieferanten sei sie auf den August vertröstet worden, berichtet Simone Tschugg. Für Patienten, die dringend auf ein Medikament angewiesen sind, finde sich zwar eine Lösung. „Irgendetwas kriegt man immer“, sagt die Flörsheimerin. Es sei aber blöd, wenn man Kunden immer wieder eine andere Packung in die Hand drücken müsse. Im Falle von Antibiotika könne es außerdem vorkommen, dass die erhältlichen Tabletten zu hoch dosiert sind, um sie Kindern zu verabreichen.
Was also tun? Sie telefoniere viel rum, um vielleicht doch noch an Arzneimittel zu kommen, berichtet Simone Tschugg. „Das ist ziemlich viel Mehraufwand“, betont die Apothekerin. Auch der Umgang mit aufgebrachten Kunden sei kein Spaß. „Manche lassen ihren Frust hier ab“, erzählt die Flörsheimerin, die schätzt, dass die Engpässe schon seit etwa einem Jahr anhalten. Angefangen hätten die Probleme noch vor der Corona-Pandemie mit den Rabattverträgen, die zwischen Krankenkassen und Medikamentenherstellern geschlossen wurden. Kassen zahlen so nur noch den günstigen Preis für Produkte ihrer Vertragspartner. Dass solche Bürokratie nicht gut gehen kann, zeigte sich schnell. Der Spitzenverband der Krankenkassen (GKV) teilte im Januar mit, dass die Bindung an Rabattpreise für Arzneimittel mit den Wirkstoffen Ibuprofen und Paracetamol sowie für Antibiotika für drei Monate ausgesetzt werden. Die Aussetzung der Festpreise soll bis Mai gelten.
Zu den Hintergründen der anhaltenden Engpässe hat diese Zeitung unter anderem den in Flörsheim ansässigen Arzneimittelhersteller Hennig befragt. Das Unternehmen, das in diesem Jahr sein 125-jähriges Bestehen feiert, identifiziert die Rabattverträge der Krankenkassen als „Hauptursache des Übels“. Der von Rabattverträgen und Festbetragsregelungen verursachte massive Preisverfall mache Medikamente für Hersteller unwirtschaftlich. Zusätzliche Regularien würden dazu führen, dass die Kosten für die Firmen noch weiter steigen. „Zentralistische Markteingriffe“ durch den Gesetzgeber seien schuld daran, dass viele mittelständische Firmen Medikamente aufgrund von Unwirtschaftlichkeit vom Markt nehmen. „Wenn es nun zu Lieferengpässen einzelner Medikamente mit dem gleichen Wirkstoff kommt, kann der Markt diesen Ausfall nicht mehr kompensieren“, so Hennig. Hinzu komme, dass sich die Zahl der Anbieter aufgrund des Kostendruckes massiv verringere, weil sich die Wirkstoffhersteller aus dem Europäischen Markt zurückgezogen haben. Diese würden jetzt hauptsächlich in Asien sitzen.