Das Martyrium des kleinen Jan in der Hanauer Sekte

Bislang unveröffentlichte Hinweise werfen neue Fragen zum Tod des vierjährigen Jan in einer Hanauer Sekte auf. Der Junge soll immer wieder misshandelt worden sein.
Wenn der kleine Jan etwas sagte, habe er oft nur geflüstert. Und das auch nur zu wenigen Menschen. „Total verschüchtert“ sei der Junge gewesen, erinnert sich ein Angehöriger. „Mundtot“ sei er gemacht worden, sagt eine Aussteigerin aus der Sekte, in die Jan hineingeboren wurde. Er habe viel geschwiegen. Und geschrien: Das Kind sei immer wieder misshandelt worden.
Am 17. August 1988 stirbt der Vierjährige. Er sei im Schlaf an erbrochenem Haferschleim erstickt, lautet der Notarzt-Befund. Weil damals laut Staatsanwaltschaft Hanau „keine Hinweise auf ein Fremdverschulden“ vorgelegen hätten, wurden die Ermittlungen eingestellt. Im Frühjahr 2015, nach Zeugenaussagen von Aussteigern und Berichten in der Frankfurter Rundschau, rollte die Staatsanwaltschaft den Fall neu auf und hat nun die 70-jährige Anführerin der Gruppe wegen Mordverdachts angeklagt. Sie soll Jan „aus niedrigen Beweggründen und grausam“ getötet haben, nachdem er zum Mittagsschlaf in ein Badezimmer gelegt worden war – bis über den Kopf in einen Leinensack eingeschnürt. Die 70-Jährige habe die lauten panischen Schreie des Jungen ignoriert und ihn seinem Schicksal überlassen, so Oberstaatsanwalt Dominik Mies, der die Ermittlungen leitet. Die Angeklagte habe das Kind als „Schwein“ und „Reinkarnation Hitlers“ bezeichnet und ihn für „von den Dunklen besessen“ gehalten.
Hinweise deuten auf einen nicht-natürlichen Tod hin
Auf welchen Erkenntnissen die 160-seitige Anklageschrift hauptsächlich fußt, ist unklar. Nach wie vor gilt die Unschuldsvermutung, und der Rechtsanwalt der Beschuldigten weist die Vorwürfe zurück.
Ob und wann ein Hauptverfahren eröffnet wird, entscheidet die Erste Große Strafkammer des Landgerichts Hanau unter Vorsitz von Richter Peter Grasmück.
Doch es gibt eine Reihe von Hinweisen, die den Verdacht stützen, dass Jan keines natürlichen Todes gestorben ist: Dass er in einem Sack schlief, der über dem Kopf zusammengebunden war, wird laut Staatsanwaltschaft nicht bestritten. Um die strittige Frage zu klären, wie der Sack beschaffen war – eng oder weit – haben die Ermittler mehrere Gutachten in Auftrag gegeben.
Wurde Beweismaterial beseitigt?
Was ist nach Jans Tod mit dem Sack passiert? Weshalb wurde er von der Polizei 1988 offenbar nicht genauer in Augenschein genommen? Warum wurde keine Obduktion durchgeführt? Bisher unveröffentlichte Interviewaussagen von Informanten und ein Brief aus dem Jahr 1989 werfen weitere Fragen auf: Den Angaben zufolge soll Beweismaterial beseitigt worden sein. Außerdem hätten Verwandte von Jan erst etwa zwei Wochen danach von seinem Tod erfahren, nach dem Begräbnis. Und bekamen nur spärliche Informationen: Von einem möglichen plötzlichen Kindstod sei die Rede gewesen.
Ein anderer Junge, der in der Gruppe aufwuchs, soll einmal mit seltsamen Malen am Hals ins Krankenhaus eingeliefert worden. Seine Mutter, die der Gruppe angehörte, hatte ihn in die Obhut der Führungsperson und anderer Mitglieder gegeben, während sie arbeitete. Die Ärztin in der Klinik habe den Verdacht gehabt, dass der Junge stranguliert worden sei.
Mehrere Aussteiger sagen, sie hätten auch in engen Säcken schlafen müssen, die am Hals verschnürt worden seien. Ein Informant berichtet, Jans Sack sei so eng gewesen, dass der Junge nach dem Aufstehen häufig verschwitzt gewesen sei. Haare und Haut seien nass gewesen.
Geschlagen und gequält
Jan sei geschlagen und isoliert worden, habe stundenlang auf dem Topf sitzen müssen. Essen sei ihm häufig in den Mund gestopft worden. Der Junge sei abgemagert und unterentwickelt gewesen. Auch andere Kinder, darunter sowohl die leiblichen als auch die Adoptivkinder der mutmaßlichen Sektenführer, seien eingesperrt und geschlagen worden.
Bevor sich die Glaubensgruppe in Hanau niederließ, lebten die Mitglieder in Darmstadt. Dort hatten die Anführer Pflegekinder – die ebenfalls psychische und physische Gewalt erlitten haben sollen. Ein Mann aus dem damaligen Umfeld der Familie sagt, die Kinder hätten ihm gegenüber geäußert, sie hielten es dort nicht aus und wollten schnell weg.
Warum hat das Darmstädter Jugendamt nicht reagiert beziehungsweise nicht intensiver kontrolliert? Das Amt hat eine entsprechende Anfrage der FR entgegengenommen und sich auf die Suche nach Informationen begeben, bislang aber noch nicht geantwortet.
„Kinder innerlich leergeräumt“
Darüber, welches Bild von Kindern in der Gruppe offensichtlich vorherrschte, gibt ein auf den 28. August 1989 datierter Brief Auskunft. Er ist nicht von der Beschuldigten, sondern von einer anderen Frau aus der Sekte unterzeichnet. Sie nimmt in dem Schreiben häufig Bezug auf Lehren, die in der Gruppierung wohl propagiert wurden: „Wenn ein Kind nur seinen verlogenen Materialisten lebt und in einer opportunistischen falschen Beziehung, dann geschieht ihm das, was Gott einer Mutter für ihre Kinder sagen ließ: Wenn sie weiterhin Gott nur ausnehmen wollen, und den Dank an ihn vergessen, dann macht er den Sack zu!“, heißt es an einer Stelle. Das meine, „daß die Kinder innerlich leergeräumt werden“.
Eine andere Passage lautet: Gott habe mit dem Geburtstag der Anführerin am 8. August 1989 „die Reinkarnation abgeschafft, weil er es satt hat, daß so mancher Hitlerkomplex in seinem nächsten Leben wieder nur seine Schlammflut gelebt und über anderen Menschen wieder nur seine Gemeinheit ausgebreitet hat“.
Die Zahl acht soll in der Gruppe eine besondere Bedeutung gehabt haben. Sie habe für Vollkommenheit gestanden, sagt eine Aussteigerin.
Anwalt: „Behauptungen“ sind „unzutreffend“
Der Anwalt der Angeklagten teilte am Mittwochnachmittag mit, er sei derzeit in einem auswärtigen Verfahren und habe noch keine Kenntnis von einer Anklage. Bereits Ende März dieses Jahres hatte er auf FR-Anfrage erklärt, dass es keine objektiven Anhaltspunkte für die Vorwürfe gebe, und unter anderem darauf verwiesen, dass das frühere Todesermittlungsverfahren abgeschlossen worden sei, weil „keinerlei Anzeichen von Fremdeinwirkung festzustellen waren“. Seine Mandantin wisse, dass sie sich nichts habe zuschulden kommen lassen.
Zu den bislang nicht veröffentlichen Hinweisen, etwa dem Vorwurf der Gewalt gegen Pflegekinder, sagt er: Die „Behauptungen“ seien „unzutreffend“ und Teil einer Rufmordkampagne, gegen die seine Mandantschaft juristisch vorgehe. Die Aussagen stammten aus einer Akte zu Ermittlungen, welche die Staatsanwaltschaft eingestellt habe.
Tatsächlich ist ein Verfahren, in dem es um „Missbrauch von Schutzbefohlenen“ ging, eingestellt worden, „weil sämtliche Tatvorwürfe – die Kinder sollen in der Gemeinschaft über Jahre hinweg misshandelt worden sein - verjährt sind“, sagt Oberstaatsanwalt Dominik Mies. Aus diesem Verfahren hätten die Ermittler aber wichtige Erkenntnisse für das laufende gewonnen.