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Zwei Jahre nach dem Anschlag von Hanau: „Wir kämpfen jeden Tag für euch“

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Von: Gregor Haschnik

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Viele Hundert Leute zogen durch Hanau und bekräftigten die Forderungen der Hinterbliebenen und Überlebenden.
Viele Hundert Leute zogen durch Hanau und bekräftigten die Forderungen der Hinterbliebenen und Überlebenden. © epd

Etwa 1500 Menschen nehmen an der Gedenkdemo in Hanau teil und fordern konsequenten Einsatz gegen Rassismus. Viele halten weiße Schilder mit den Gesichtern der Ermordeten hoch.

Wir vermissen euch sehr und werden euch niemals vergessen. Wir kämpfen jeden Tag für euch“, ruft Çetin Gültekin. Es ist eine quälend lange Zeit ohne Kaloyan, Sedat, Fatih, Vili Viorel, Mercedes, Ferhat, Gökhan, Hamza und Said Nesar. Mehrfach nennt Gültekin ihre Namen und sagt, seit wann ihre Verwandten und Freund:innen ohne sie leben müssten: 104 Wochen. 732 Tage. 17 520 Stunden.

Gültekin steht auf einer großen Bühne auf dem Hanauer Marktplatz. Unter seiner Jacke trägt er ein weißes T-Shirt, auf dem #saytheirnames zu lesen ist. Vor ihm haben sich Hunderte Menschen versammelt, vor allem junge. Sie halten viele weiße Schilder mit den Gesichtern der Ermordeten hoch. Es sind so viele Schilder, dicht an dicht, dass sie sich zu einem großen Bild zu vereinen scheinen. Der Bruder des erschossenen Gökhan Gültekin gehört zu den Redner:innen während der Demo am Samstagnachmittag, zu der ein Bündnis aus Jugendorganisationen aufgerufen hat. Das Motto lautet „Kein Vergeben – Kein Vergessen – #rememberhanau“. Mit dabei sind unter anderem die Bildungsinitiative Ferhat Unvar, DGB-Jugend, DIDF-Jugend, Grüne Jugend, Jusos, „Fridays for Future“ und Schüler:innen verschiedener Schulen. Sie gedenken mit Schweigeminuten und indem sie die Namen der Opfer rufen. Die Polizei wird später 1000 Teilnehmende gezählt haben, der DGB 2000. Die tatsächliche Zahl dürfte in der Mitte liegen. Nicht nur in Hanau, sondern in mehr als 100 weiteren Orten finden am Samstag Gedenkveranstaltungen statt.

Vor genau zwei Jahren ermordete ein 43-Jähriger aus rassistischen Motiven Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtovic, Vili Viorel Paun, Fatih Saraçoglu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Danach tötete er seine Mutter und sich selbst.

Die vergangenen Tage waren besonders anstrengend, Gültekin hat wenig geschlafen, aber er spricht kämpferisch wie immer, mit bebender Stimme. Und kritisiert etwa, dass das Waffenrecht verschärft werden sollte, aber eine Lobby aus Schützenvereinen, Jäger:innen und Waffenunternehmen dies gestoppt habe. Und dass die Hinterbliebenen besonders nach den Attentaten „wie rechtlose Objekte behandelt wurden“. Gültekin fordert, dass das geplante Mahnmal „genau hier“ errichtet werde und dankt für die „große Solidarität“, die viele Bürger:innen nach dem Anschlag mit den Opferfamilien gezeigt hätten. „Dem strukturellen Rassismus setzen wir einen strukturellen Antirassismus entgegen, wo immer möglich. In Schulen, in Theatern, auf Fußballplätzen oder bei Gewerkschaftsversammlungen“, kündigt Gültekin an. Es sei ein Kampf für die gesamte Gesellschaft, auch um zu verhindern, dass weitere Familien so etwas erleiden müssten.

Armin Adilovic und Mina Masoud von der DIDF-Jugend beklagen derweil, dass staatliche Organe nach wie vor oft blind für rechtsextreme Gewalt und zum Teil sogar in diese verstrickt seien. Auch Comedian Enissa Amani kritisiert, dass Deutschland und auch „diejenigen, die uns schützen müssten“, ein „gewaltiges rechtes Problem“ hätten. Sie könne es nicht mehr hören, wenn Politiker:innen nach Hanau sagten, sie seien traurig und fühlten mit den Betroffenen. Stattdessen sollten sie „das rechte Problem beheben“, so Amani.

Ali Yildirim von der Bildungsinitiative Ferhat Unvar mahnt, die schönen Worte von Politiker:innen an Gedenktagen dürften nicht Theorie bleiben. Sie müssten zivilgesellschaftliche Initiativen im Kampf gegen Rassismus intensiv unterstützen. Das Schüler:innen-Bündnis macht sich dafür stark, dass Offenheit, Solidarität, Toleranz und der Umgang mit Diskriminierung in der Schule viel stärker thematisiert würden. Auch wenn diese zum Teil sogar das Siegel „Schule ohne Rassismus“ trügen, würden solche Themen kaum behandelt.

Am Ende strahlt Serpil Temiz Unvar, Mutter des ermordeten Ferhat, Zuversicht aus: „Dieses Mal weinen wir nicht. Wir kämpfen weiter. Dieses Land gehört zu uns. Wir wollen mitgestalten.“

Als die Demonstrierenden am ersten Tatort, dem Heumarkt, halten, ergreift Emis Gürbüz, Mutter des ermordeten Sedat, das Wort. „Wir werden die neun Kinder nicht vergessen lassen“, sagt die Dietzenbacherin während ihrer kurzen, emotionalen Ansprache. „Wir werden immer, immer erinnern.“

Sie übt, wie bereits bei der zentralen Feier auf dem Hauptfriedhof, Kritik daran, dass das Land Hessen das dortige Gedenken dominiert habe und die Angehörigen nicht hätten mitbestimmen dürfen, etwa bei den Gästen. „Die nehmen alles weg von uns. Wer gibt ihnen dieses Recht?“, fragt Gürbüz. Auch sie lässt eine weiße Taube aufsteigen. Danach ziehen die Demonstrierenden weiter friedlich durch die Innenstadt. Und skandieren: „Ha-nau war kein Ein-zel-fall! Wi-der-stand, ü-ber-all!“.

Der ganze Samstag steht im Zeichen des Gedenkens, aber auch des Appells für Toleranz. Bereits am Nachmittag schreibt Chaymaa Azeggaghe „Ich hoffe auf Zusammenhalt, Respekt und Nächstenliebe“ auf ein Kärtchen und hängt es an eine Stellwand am Kurt-Schumacher-Platz, dem zweiten Tatort, unter die Rubrik „Hoffnung“. Weshalb? Das seien besonders wichtige Grundlagen für ein gutes, friedliches Zusammenleben. Unter der Rubrik „Klage“ notiert sie, Rassismus, Neid und Hass seien Gift.

Azeggaghe nimmt an einer Aktion des Muslimischen Arbeitskreises (MAH) und des Kirchenkreises teil, die „Zeit zur Klage und Raum für Hoffnung“ geben soll, erst auf dem Marktplatz, dann in Kesselstadt. Behlül Yilmaz, Vorsitzender des MAH, und Dekan Martin Lückhoff zeigen sich zufrieden mit den Reaktionen.

Einige winken genervt ab, andere verbreiten Verschwörungstheorien zum Anschlag. Doch mehrere Hundert Leute nutzen das Angebot gerne, Yilmaz und Lückhoff kommen mit vielen ins Gespräch. „Es war uns wichtig, diese Aktion gemeinsam zu machen, um zu zeigen, dass wir das Miteinander gemeinsam gestalten sollten“, erklärt Yilmaz. Ein weiteres Ziel sei, den Hanauer:innen die Gelegenheit zu geben, sowohl Zuversicht als auch Schmerz zu äußern und über das Zusammenleben nachzudenken, fügt Lückhoff hinzu.

Am Abend feiern die Jüdische Gemeinde Hanau, die Wallonisch-Niederländische Kirche und die katholische Pfarrei St. Elisabeth unter dem Titel „In Freiheit und Toleranz den Glauben leben“ ein gemeinsames Gedenken. Dechant Andreas Weber ruft dazu auf „Hass nicht mit Hass zu beantworten“, auch weil dies im Sinne des Attentäters wäre. Stattdessen brauche es die Vision von einer Gemeinschaft und den Einsatz eines jeden dafür.

Gott habe eine „herrlich bunte Welt erschaffen“, sagt Rabbiner Andrew Steiman aus Frankfurt. Es sei die Aufgabe der Bürger:innen, sie zu erhalten – und Hanaus lange Tradition der Toleranz, die im 17. Jahrhundert begann, heute zu leben.

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