Hanau: Wenn Erwachsene die Grundschule nachholen
In Hanau bietet ein Grundbildungszentrum Alphabetisierungs- und Rechenkurse für Erwachsene an.
Anders als etwa zu Zeiten der berühmten Hanauer Germanisten Jacob und Wilhelm Grimm wird heute Lesen, Schreiben und Rechnen als selbstverständliche Kompetenz angesehen. Die Studie „Leo. Level-One“ bestätigt dies jedoch nicht. Danach sollen rund zwölf Prozent Erwachsenen in Deutschland diese drei Kulturtechniken nur unzureichend beherrschen. Umgerechnet auf Hanau leben in der Stadt somit also rund 12 000 Betroffene. Mit der Teilnahme am bundesweiten Projekt Grundbildungszentrum (GBZ) soll diesen Personen geholfen werden, sich sicherer in der Welt der Worte und Zahlen zurechtzufinden.
„Die Resonanz ist sehr gut, vor allem bei Einrichtungen wie dem Mehrgenerationenhaus, die mit uns kooperieren wollen“, sagt Koordinatorin Judith Lechner. Das offene Angebot des GBZ nutzen derzeit nachmittags zwei Mal in der Woche acht bis zehn Personen. Vormittags sind es bis zu sechs Menschen, die als berufsbezogene Fortbildung noch einmal wie Erstklässler Lesen, Schreiben und das einfache Rechnen lernen.
Das GBZ vermittelt diesem Personenkreis überdies einen Einstieg in der Nutzung von Smartphone und PC. „Unsere Zielgruppe sind Erwachsenen, die in Deutschland geboren und zur Schule gegangen sind“, sagt Lechner. Für Menschen mit Migrations- oder Fluchthintergrund gebe es separate Programme wie „Deutsch als Fremdsprache“ oder das niederschwellige „Mama lernt Deutsch“.
Lesen und schreiben lernen
Analphabetismus wird in vier Stufen definiert, von primär bis funktional, von Erwachsenen, die nie Lesen und Schreiben gelernt haben, bis zu solchen mit nur geringen Fähigkeiten.
Die Bundesregierung hat 2016 die „Alpha-Dekade“ ausgerufenen und 180 Millionen Euro Fördergeld bereit gestellt. Die Länder sind zur Umsetzung aufgefordert. Das Grundbildungszentrum (GBZ) Hanau besteht seit Oktober 2020. Weitere GBS sind in Offenbach und im Wetteraukreis entstanden.
Sprechstunde des Hanauer GBS ist dienstags, 10-13 und 14-17 Uhr, bei Hessencampus im Kulturforum, Freiheitsplatz, Telefon 0160 / 97 27 87 90. sun
Die Werbung für die Angebote des GBZ’ laufe über Multiplikatoren. Als Botschafter der Kampagne in Hessen fungiert überdies der Turner und Olympiasieger Florian Hambüchen, der bereits das GBZ in Hanau besuchte. Aber auch mit Plakaten werden die Betroffenen angesprochen, denn die meisten von ihnen seien funktionale Analphabet:innen, die einzelne einfache Worte lesen und schreiben können, heißt es. Nicht zuletzt gebe es Personen, die das Lesen und Schreiben wegen langer Nicht-Nutzung schlicht verlernt hätten.
Die größte Hürde, einen Alphabetisierungskurs zu besuchen, bilde oft die Scham. Überdies hätten die Betroffenen gelernt, sich mit ihrem Defizit zu engagieren, sich mit Strategien mehr oder weniger erfolgreich „unentdeckt“ durch den Alltag lavieren, heißt es. „Das Alter unsere Teilnehmer:innen reicht von 30 bis Ende 50“, sagt Lechner. Was die Leute antreibt, sind berufliche oder private Gründe. „Sie wünschen sich etwa, ihren Kindern oder Enkeln bei den Hausaufgaben zu helfen oder ihnen aus einem Buch vorzulesen.“
Das Hanauer GBZ macht den Einstieg in den Unterricht einfach mit einem kostenlosen, offenen und niederschwelligen Angebot. Es gibt somit keine Anwesenheitslisten und -pflicht. Lernort ist das Café Ellis am Johanneskirchplatz. „Das Lokal wurde bewusst wegen der Intimität ausgewählt.“ Gelernt wird vormittags im Klassenverband oder am Nachmittag in der Gruppe und im Einzelunterricht. Cafébesitzer Elias Kolbe zeigt sich laut Lechner nicht nur als Gastgeber. Er gehöre mittlerweile - nach einer Schulung - zum Dozententeam, das aus fünf Frauen und ihm besteht.
Reinkommen und mitmachen geht jedoch nicht. Vorneweg steht die Beratung. „Die Menschen kommen mit unterschiedlichem Vorwissen und aus verschiedener Motivation, daher ist das Gespräch zur Einstufung wichtig“, sagt Lechner. In der Beratung werden etwa Lernschritte besprochen und „dass man sich auf keinen Fall mit den anderen Teilnehmern:innen vergleichen soll“. Die Unterschiede im Lerntempo können groß sein und damit frustrierend und demotivieren wirken. „Ich sage den Betroffenen immer, das dauert und braucht Geduld“, bemerkt die Koordinatorin.
Allerdings ist die Zeit des GBZ wohl begrenzt - zumindest bis Ende 2022 läuft die Finanzierung des Bundes. „Projektleiter Stefan Konrad und ich suchen derzeit neue, künftige Fördertöpfe oder schreiben Förderanträge, damit es weitergehen kann“, sagt sie. Laut Lechner besteht immerhin der politische Wille in der Stadt, das GBZ weiter zu unterstützen, nicht allein in Sachen Erwachsenenbildung. Damit lernschwache Schüler:innen wegen der Corona-bedingten Schulsituation nicht hinten herunterfallen, wird derzeit zusätzlich eine kostenlose Hausaufgabenhilfe geboten.