Hanau: Leiden und Lichtblicke im Sammellager

Das Tagebuch des Campleiters Harry Heath ermöglicht Einblicke in das Leben von Displaced Persons nach dem Krieg.
Samstag, 5.5.45: „Ich muss dringend die Frage nach anderen Nahrungsmitteln zur Sprache bringen. Zweifellos werden mehr Fleisch und Fett benötigt.“
Samstag, 11.8.45: „Wir haben immer noch über 8000 Leute, das sind 1000 mehr als ordentliche Schlafstellen vorhanden sind.“
Freitag, 2.11.45: „Hatte heute eine harte Auseinandersetzung mit der Militärverwaltung. Ich beklagte mich bei Lt. Thomas darüber, dass seine GIs und Deutsche gestern Nacht das Camp durchsuchten und dabei die Decken von den schlafenden Frauen und Kindern zogen, um einen gesuchten Polen zu finden.“
Freitag, 9.11.45: „Es scheint, als habe die Militärverwaltung beschlossen, dass ich lediglich die DPs (Displaced Persons, Anm. d. Red.) ruhig zu halten habe, und es mir nicht erlaubt ist, irgendwas für ihr Wohlbefinden zu unternehmen. Ich werde kündigen, falls das so ist.“

Das Buchprojekt
Das Tagebuch von Harry Heath wird in handschriftlicher Form im Imperial War Museum in London aufbewahrt. Er leitete als Freiwilliger das Hanauer Sammellager für Displaced Persons.
Alice Noll , die Geschichte, Englisch, Politik studierte und Studiendirektorin am Karl-Rehbein-Gymnasium war, hat die Einträge ausgewertet. Noll publizierte bereits unter anderem über „Die amerikanischen Schulen in Hanau“. (gha)
Sonntag, 18.11.45: „Lettischer Nationalfeiertag der Befreiung. Ein Konzert am Nachmittag und ein Schauspiel am Abend (beides im Theater) mit anschließendem Fest – (Butterbrote).“
Diese Passagen stammen aus dem Tagebuch von Harry Heath. Der Brite leitete von April 1945 bis Juni 1947 das Sammellager der internationalen Hilfsorganisation United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) in der François-, Hutier- und Hessen-Homburg-Kaserne im Hanauer Stadtteil Lamboy/Tümpelgarten. In dem von der US-Armee eingerichteten Lager wurden nach dem Zweiten Weltkrieg sogenannte Displaced Persons untergebracht: Mehr als 10 000 Menschen aus etwa 20 verschiedenen Ländern, die die Vernichtungslager des NS-Regimes überlebt hatten, Zwangsarbeit hatten verrichten müssen, aber auch frühere Kriegsgefangene und Geflüchtete. Sie warteten auf die Rückkehr in ihre Heimat, wo einem Teil von ihnen Zwangslager und Hinrichtung drohten.
Die Aufzeichnungen ermöglichen erstmals einen umfassenderen, direkten Einblick in das Leben dort. Zu verdanken ist dies Alice Noll. Die frühere Studiendirektorin, die sich im Vorstand des Hanauer Geschichtsvereins 1844 engagiert, hat das digitalisierte Original des Tagebuchs intensiv ausgewertet und behutsam übersetzt, so dass Heaths Sprachstil und seine Sicht klar zu erkennen sind. Zudem hat sie die subjektive und somit auch lückenhafte Darstellung um zahlreiche wichtige Hintergrundinformationen ergänzt. Dafür wertete Noll, die sich in ihrer Promotion mit englischer Literatur beschäftigte, nicht nur Dokumente aus, sondern sprach auch mit Zeitzeug:innen.
Das Ergebnis ist eine 170 Seiten umfassende Dokumentation mit dem Titel „Das Tagebuch des Harry Heath“, herausgegeben vom Fachbereich Kultur, Stadtidentität und Internationale Beziehungen der Stadt. Sie zeigt unter anderem, welchen Einfluss die Militärverwaltung hatte und welche Weichen sie stellte. Wie die Menschen im Camp unter den Folgen des Krieges litten, aber auch Hoffnung aus Lichtblicken schöpften. Welche Konflikte es zwischen einzelnen Gruppen gab, etwa zwischen Menschen aus Russland und dem Baltikum sowie zwischen Lagerleitung und Militärverwaltung. Heath und Noll berichten von Hunger, gewalttätigen Auseinandersetzungen, von Tuberkulose und Todesfällen, aber auch von Feiern, Konzerten, Hochzeiten und Weihnachtsgeschenken für Kinder.
Eine Motivation von Alice Noll war, bislang unbekannte Aspekte zu erforschen, wie sie in der Einleitung schreibt. Hinzu kam der interessante Protagonist, der dem Leitsatz der UNRRA, Menschen Hilfe zur Selbsthilfe zu geben, gefolgt sei, so Noll. Er habe seinen Spielraum genutzt, um „den vom NS-System gedemütigten und bedrohten Menschen“ bei der Wiederherstellung ihres Selbstwertgefühls zu helfen. Aufseiten des Militärs habe diese Haltung wenig Widerhall gefunden.
Ende 1945 brechen die Einträge ab, schon ab August 1945 waren Seiten entfernt worden. Noll hat die begründete Vermutung, dass Heath dies tat, um womöglich belastende Notizen zum Schutz anderer und zu seinem eigenen Schutz zu beseitigen. Auch weil russische Offiziere ins Lager kamen, um die Zwangsrückführung baltischer DPs einzuleiten. Um dies zu verhindern, deutete Heaths Frau Muriel Gardner in einem Interview an, habe er Registrierungskarten von DPs vernichtet und Eintragungen gefälscht.