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„Die Welt gehört doch uns allen“

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Von: Gregor Haschnik

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Kim Schröder ist immer noch traumatisiert von den Morden des 19. Februar in Hanau.
Kim Schröder ist immer noch traumatisiert von den Morden des 19. Februar in Hanau. © ROLF OESER

Die damals schwangere Kim Schröder überlebte den Anschlag von Hanau.

Ich habe seit dem 19. Februar 2020 keinen Appetit mehr“, sagt Kim Schröder. Danach aß sie während ihrer Schwangerschaft nur mehr, damit ihr Sohn gesund zur Welt kommt – was sie mit seinen vier Kilo bei der Geburt auch schaffte. Lust auf Essen spüre sie seit jenem Abend vor zwei Jahren kaum: „Manchmal esse ich bis 16 Uhr nichts. Bis ich anfange, leicht zu zittern, weil mein Körper dringend etwas braucht.“ Die vielen Alpträume machen ihr ebenfalls zu schaffen. Gleichzeitig gibt es Lichtblicke, wie die Entwicklung des kleinen Dario. „Es gibt Höhen und Tiefen. Ich bin nicht die Kim, die ich vorher war. Manchmal habe ich einen Tunnelblick.“

Schröder konnte sich und ihr Kind während des rassistischen Anschlags von Hanau retten. Am zweiten Tatort, in der Arena-Bar und im Kiosk davor, beging der Terrorist sechs der neun Morde. Schröder stand mit Mercedes Kierpacz, die für ihre Kinder etwas zu essen holte, Ferhat Unvar und Gökhan Gültekin im Kiosk, als sie gegen 22 Uhr Knallgeräusche hörten. Sie sprachen gerade darüber, dass Schröder einen Jungen bekommen würde, vor allem Kierpacz war da sicher, weil die Schwangere so makellos geblieben sei und so gern saure Zungen esse.

Schröder ist für das Gespräch in die Räume der Initiative 19. Februar, in der sich Hinterbliebene und Überlebende engagieren, gekommen. Gegenüber von ihr hängt ein Plakat mit den Opfern. „Es tut nach wie vor weh, sie so zu sehen.“ Im Kiosk, als es draußen knallte, ging Kierpacz davon aus, dass es harmlos wäre, weil sie Jugendlichen kürzlich Silvesterknaller geschenkt hatte. Im nächsten Augenblick „stand er schon drin und schoss“, erinnert sich Schröder. Er, der eben auf dem Parkplatz Vili-Viorel Paun getötet hatte, habe einen „verstörten Blick“ gehabt und gesagt, „ich bringe euch alle um“. Er zielte auch mehrfach auf sie, wie Einschusslöcher zeigen, traf aber nicht. „Ich hatte nur eins im Kopf: mich und mein Kind retten. Bin im Zickzack gelaufen, habe meinen Kopf immer wieder gebeugt, wie beim Sparring. Vielleicht half mir meine Reaktion, die ich beim Kickboxen trainiert habe.“

Sie sprang hinter die Theke und hatte so große Angst, dass sie nicht atmete. Noch schlimmer sei gewesen, „die Schüsse zu hören, die der Täter hinten in der Arena-Bar abfeuerte“. Und die Totenstille im Kiosk zu ertragen. „Mercedes war so temperamentvoll. Im Kiosk haben wir auch mal Musik angemacht und getanzt. Und dann lag sie so da, ganz still, voller Blut. Kurz darauf kam es mir so vor, als hätte sie losgelassen, als hätte ihre Seele ihren Körper verlassen.“

Nach zwei Jahren schlage die Trauer ab und zu in Wut um - auf das Versagen von Behörden, den Rassismus in der Gesellschaft und die mangelnde Zivilcourage. Aufmerksam verfolgt Schröder den Fall der 17-jährigen Dilan, die in Berlin Opfer einer rassistischen Attacke wurde. „Wie kann man 2022 noch so primitiv sein und darauf kommen, dass Menschen wegen ihrer Hautfarbe oder Herkunft weniger wert wären?“

Und erst recht werde sie sich nie erklären können, wie jemand Menschen wegen ihres Äußeren ermorden könne. „Die Welt gehört doch uns allen“, sagt sie energisch. Für Schröder ist Multikulti eine Selbstverständlichkeit.

Jeder trage Verantwortung. Dass nicht jeder sie übernimmt und handelt, wurde ihr nach dem Anschlag schmerzhaft bewusst. Nachdem sie aus dem Kioskfenster gesprungen und eine Weile im Gebüsch gekauert hatte, rannte sie zur Straße und hielt Autos an. „Ich sagte, dass da ein Amokläufer war und dass ich schwanger bin. Niemand ließ mich rein.“ Nach zehn Minuten, die ihr wie Stunden vorkamen, stieg sie ins erste Polizeiauto, das den Tatort erreichte. Die Beamten schienen nicht zu wissen, wo die Bar ist.

Im Krankenhaus blickte Schröder in besorgte Gesichter und befürchtete, ihr Kind verloren zu haben. Sie war nach ihrem Sprung auf den Bauch gefallen und hatte scheinbar Fruchtwasser verloren. Doch es war Urin, wegen des Schocks: „Dem Kleinen geht es gut“, sagte ein Arzt.

Da begann sie zu weinen, laut und lange. „Ich musste an Ferhat, Gökhan und Mercedes denken. Und was sie erst kurz vorher gesagt hatten: Dass es ein Junge wird.“ Auch jetzt, als sie es erzählt, fließen Tränen. Schröder schwärmt von Kierpacz. „Sie war einzigartig, vertrauenswürdig, wie eine große Schwester. Als ich schwanger war, hat sie schon mal für mich eingekauft. Wir vermissen sie und alle anderen sehr.“

Fassungslos mache sie, dass Politik und Behörden nach dem Anschlag fast keine Konsequenzen gezogen hätten und etwa die Ermittlungen zum Notausgang in der Arena-Bar eingestellt worden seien, mangels hinreichendem Verdacht auf fahrlässige Tötung. Die Staatsanwaltschaft hatte etwa auf teils widersprüchliche Aussagen verwiesen. Schröder hat dazu eine klare Meinung: „Jeder, der in die Bar ging, wusste, dass der Notausgang immer zu war.“ Dass der Notruf zeitweise nicht erreichbar war und niemand dafür geradestehe, mache sie auch wütend.

Sie habe nach dem Anschlag aber auch gute Erfahrungen gemacht, nicht zuletzt mit Christina Büttner von Response, der Beratungsstelle für Betroffene von rechter und rassistischer Gewalt. „Sie gibt mir Halt, hilft mir sehr.“

Am zweiten Jahrestag wird Kim Schröder am Gedenken teilnehmen. „Ich muss es machen, auch für Mercedes.“ Die junge Mutter setzt sich ebenfalls für Erinnerung und Aufklärung ein, zentrale Forderungen der Initiative 19. Februar. Aber sie versucht auch, zu all dem, was passiert ist, etwas Distanz zu gewinnen, um sich und ihre Familie zu schützen.

Welche Pläne sie für die Zukunft hat? „Ich versuche erst einmal, mich auf mein Kind und mich zu konzentrieren, die Psychotherapie durchzuziehen, damit es mir richtig gut geht.“

Auf einem Tisch stehen Erinnerungsstücke an Mercedes Kierpacz, ein Engel und ein Buch, dessen kunstvoller Block ihr Gesicht formt. Daneben steht ein in Glas gefasstes Gedicht der Romni Ceija Stojka. Die Schriftstellerin, Künstlerin und Aktivistin überlebte drei Vernichtungslager. Das Gedicht lautet: „Noch hängen die Tränen / im Augenwinkel fest / Ein Schleier der Erinnerungen / hält sie / und lässt sie nicht los / Doch wehe wenn eine / aus dem Augenwinkel rollt / dann ist niemand im Stande / sie aufzuhalten.“

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