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Anschlag in Hanau: „Wie rechtlose Objekte“behandelt

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Von: Gregor Haschnik

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Çetin Gültekin fordert feste zentrale Ansprechpartner:innen für Menschen, die von Terror betroffen sind.
Çetin Gültekin fordert feste zentrale Ansprechpartner:innen für Menschen, die von Terror betroffen sind. © ROLF OESER

Çetin Gültekin beklagt den Umgang mit den Betroffenen nach dem Anschlag von Hanau.

Unsere Familie lebt seit 1968 in Hanau“, sagt Çetin Gültekin laut und selbstbewusst. Der 47-Jährige erzählt, dass sein Bruder Gökhan in Hanau geboren sei, wie er. Dass sie in Hanau zur Schule gingen, arbeiteten, nie Sozialleistungen erhielten und seit 1994 im Stadtteil Kesselstadt lebten. Zufrieden – bis zum 19. Februar 2020. An jenem Abend wurde Gökhan in dem Kiosk, der an die Arena-Bar grenzt, getötet, aus rassistischen Motiven. „Der Rassist hat nicht nur meinen Bruder ermordet, sondern unsere Familie zugrunde gerichtet.“ Ihre Existenzgrundlagen seien zerstört, ihre Herzen gebrochen.

Im Untersuchungsausschuss, der klären soll, welche Fehler hessische Behörden – die die Vorwürfe entschieden zurückweisen – gemacht haben, spricht Gültekin am Freitag als Erster. Wie die anderen Hinterbliebenen beklagt er mangelnde Empathie, Information, Unterstützung und Konsequenzen. Und schildert detailliert, was ihm und seinen Nächsten widerfuhr: Sein krebskranker Vater starb 38 Tage nach dem Mord an Gökhan, der für die Familie gesorgt hatte. Er habe sich dann alleine um die trauernde und lungenkranke Mutter gekümmert, so Çetin Gültekin, sei teilweise überfordert gewesen. Seine Ehe sei zerrüttet.

Als er damals am Tatort angekommen sei, hätten seine Eltern auf der Straße gesessen, weinend und in Hausschuhen. Von einem Bekannten wussten sie, dass Gökhan im Kiosk lag, hofften jedoch, dass er noch lebte. Vor Ort habe es weder eine Kontaktperson noch Betreuung gegeben. Die Polizist:innen seien ängstlich, genervt, überfordert gewesen, völlig unerfahren im Umgang mit Traumatisierten. „Welche Ausbildung haben sie?“, fragt der Zeuge und verweist darauf, dass es doch Pläne für sogenannte Großlagen und Katastrophen gebe. Wie das 2016 bei der hessischen Polizei thematisierte Szenario, bei dem ein Täter an mehreren Standorten tötet und es daher wichtig ist, Notrufe und damit Informationen zuverlässig entgegenzunehmen – was in Hanau wegen des veralteten, unterbesetzten Notrufs nicht der Fall war. „Gab es weitere Szenarien oder gar kein Konzept?“

Die sechs Stunden in einer Polizeihalle im Stadtteil Lamboy, in die die Angehörigen gebracht wurden, „kamen uns wie sechs Tage vor“. Sie hätten nichts erfahren – bis ein Beamter die Liste mit den Namen der Toten verlesen habe. Die Verwandten seien mit der Aussicht auf Informationen dorthin transportiert worden, um sie vom Tatort fernzuhalten, vermutet Gültekin. Auch in den nächsten Tagen seien sie nicht informiert worden, etwa darüber, wo sich der Leichnam befinde oder dass eine Obduktion durchgeführt werde und wie. Die Gelegenheit, davor Abschied zu nehmen, sei ihnen verwehrt worden, obwohl viel Zeit gewesen wäre. Nach quälenden Tagen der Ungewissheit durfte Çetin Gültekin zu seinem Bruder. Doch auf das, was er im Leichensack sah, war der 47-Jährige nicht vorbereitet worden. „Sie schnitten den gesamten Körper von Gökhan auf.“

Der Anschlag

Aus rassistischen Motiven ermordete ein 43-Jähriger am 19. Februar 2020 Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtovic, Vili Viorel Paun, Fatih Saraçoglu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Danach tötete er offenbar seine Mutter und sich selbst.

Im Kiosk vor der Arena-Bar am Kurt-Schumacher-Platz in Kesselstadt wurden Gökhan Gültekin, Ferhat Unvar und Mercedes Kierpacz ermordet. Gültekin arbeitete in dem Kiosk. Kierpacz wollte eine Pizza für ihre Kinder holen. Unvar war vorher im nahe gelegenen Jugendzentrum k.town und wollte hier noch Freunde treffen.

Kurz zuvor hatte der Attentäter auf dem Parkplatz Paun erschossen. Dieser hatte den 43-Jährigen am ersten Tatort in der Innenstadt beobachtet, gestört und war ihm in seinem Auto nach Kesselstadt gefolgt. Währenddessen versuchte Paun dreimal vergeblich, den Notruf zu erreichen.

Der Täter drang um 22 Uhr in den Kiosk ein und erschoss die drei jungen Hanauer:innen innerhalb von Sekunden. Ferhat Unvar konnte sich noch hinter den Tresen des Kiosks ziehen, wo er regungslos liegen blieb. Eine schwangere junge Frau konnte sich hinter dem Tresen verstecken und flüchtete später, indem sie durch das Ladenfenster sprang. Gegen 22:08 Uhr trafen die ersten Polizist:innen am Kurt-Schumacher-Platz ein und betraten den Kiosk ungefähr zwei Minuten später.

Weitere Texte zum Anschlag stehen auf www.fr.de/terror gha

Es ist ganz still, als Gültekin Passagen aus dem Obduktionsbericht vorliest: 1580 Gramm – so viel habe das Gehirn seines Bruders gewogen, 432 Gramm das Herz, 2044 Gramm die Leber, 258 Gramm die Milz. „Es gibt den Begriff des Totenfürsorgerechts. Hat eine Leiche keine Ehre mehr?“

Als Jörg Michael Müller (CDU) sagt, dass eine solche Obduktion nach Kapitalverbrechen Pflicht sei, räumt Gültekin ein, er verstehe, dass ein Teil der Untersuchung notwendig sei, etwa um die Kugeln zu finden. Aber der Rest? Und wieso habe niemand mit den Angehörigen gesprochen? Sie seien wie rechtlose Objekte behandelt worden. „Das war wie ein zweiter Anschlag.“ Er kritisiert zudem, dass der Vater des Attentäters „mit Samthandschuhen angefasst wurde“, während die Hinterbliebenen aufgefordert worden seien, „keine Rache zu üben“ und erst im Dezember 2020 – im „Spiegel“ – von rassistischen, bedrohlichen Anzeigen des Vaters erfuhren, die dieser schon im April gestellt hatte.

Auch die lange Suche nach einer neuen, bezahlbaren Wohnung, die nicht in der Nähe des Tatorts liegt, sei belastend gewesen. Bund und Land hätten keine Abhilfe geschaffen. Dann habe sich die Stadt Hanau dankenswerterweise bereiterklärt, für ein Jahr die Mehrkosten durch das neue Zuhause zu übernehmen.

Robert Lambrou (AfD) fragt Gültekin später, wer Verantwortung übernehmen solle. „Herr Beuth“, antwortet er sofort. Der Innenminister von der CDU lüge, wenn er von exzellenter Arbeit seiner Behörden spreche, er hätte sich bei den Betroffenen wenigstens entschuldigen müssen.

Zum Schluss fasst Gültekin einen Teil seiner Kritik zusammen: Staat und Behörden würden immer nur dann informieren und etwas zugeben, wenn es zu offensichtlich geworden sei. Ansonsten werde abgestritten und so getan, als wäre alles bestens gelaufen. „Immer wieder dasselbe Muster!“

Journalisten fragten die Angehörigen oft, was sie vom Untersuchungsausschuss erwarteten, fügt Gültekin hinzu. Er gibt die Frage an die Mitglieder des Ausschusses weiter und appelliert an sie, „den Kreislauf von Nichtinformation und Vertuschung zu durchbrechen“.

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