Zweimal die Woche kommt in Hessen die Kita vor das Zirkuszelt gerollt

Hessen bietet Kindern beruflich Reisender eine bundesweit einmalige Betreuung an. Wir haben uns den Kindergarten auf Rädern einmal angeschaut. Von Peter Hanack (Text) und. Monika Müller (Fotos)
Dieses Angebot ist einmalig in Deutschland: Das Kita-Mobil tourt seit gut zwei Jahren durch Hessen, immer unterwegs zwischen Rummelplätzen, Zirkuszelten und Schaustellerbuden. Frühe Förderung für die Kinder beruflich Reisender ist Name und Programm des Projekts, das weit und breit seinesgleichen sucht.
John ist fünf und seit Anfang an dabei. Der aufgeweckte Spross der Zirkusfamilie Alberti kommt diesen Sommer in die Schule. Heute hat er auf dem Blatt eines Vorschulblocks alle Buchstaben gesucht, gefunden und grün ausgemalt, die dort versteckt zwischen Zahlen und zahlreichen Zeichen stehen.
Jetzt ist er gerade dabei, im feinen Sand eines kleinen Holzkastens die Konturen der Bilder nachzuziehen, die Sozialpädagogin Jana Roth auf einer Mini-Tafel vorgezeichnet hat. Und gleich wird er mit drei grünen Gummibällen zeigen, dass ein Nachwuchs-Artist wie er selbst in den beengten Verhältnissen eines zum Spiel- und Lernzimmer ausgebauten mittelgroßen Wohnmobils zu jonglieren vermag.
Keine Aufnahme in den Kindergarten
Schulen für die Kinder beruflich Reisender gibt es mittlerweile fast überall in Deutschland. Mit dem Kindergarten ist das etwas anderes. „Es ist für Menschen, die fast das ganze Jahr auf Festplätzen unterwegs sind oder mit dem Zirkus durch das Land fahren, kaum möglich, ihre Kinder irgendwo in einer Kita anzumelden“, berichtet Theresa Saup. Die 28-jährige Sozialpädagogin leitet das Projekt Kita-Mobil. Selbst wenn die Familien über Wochen oder Monate im Winterlager seien, blieben deren noch nicht schulpflichtige Kinder häufig ohne professionelle Betreuung oder Förderung, sagt sie.
Deshalb gibt es in Hessen seit September 2020 die mobile Kita. Bis auf ein Vorschuljahr, das die Schule für die Kinder beruflich Reisender in Nordrhein-Westfalen anbietet, existiert bundesweit nichts Vergleichbares. In der Regel kommt das Kita-Mobil zweimal in der Woche jeweils für zwei Stunden an die Standplätze der Schausteller- und Zirkusfamilien. Meist sind es ein oder zwei Kinder zwischen drei und sechs Jahren, die dort betreut werden.
15 Stationen pro Woche
Dann sind Saup oder ihre 21 Jahre alte Kollegin Roth, die beide Soziale Arbeit in Wiesbaden studiert haben, meist allein auf Tour. Mitunter, etwa auf großen Rummelplätzen wie der Frankfurter Dippemess, können es auch ein paar mehr Kinder werden. Dann rückt die mobile Kita in Doppelbesetzung an. Insgesamt kommen so 13 bis 15 Stationen pro Woche von Gießen, Marburg über Hanau und Seligenstadt bis Babenhausen zusammen und einige hundert gefahrene Kilometer.
Bis zu sechs kleine Schreibtische gibt es in dem umgerüsteten Wohnmobil. In Hängeschränken und unter den aufklappbaren Tischplatten ist so ziemlich alles verstaut, was gebraucht wird: Stifte, Papier, Malblocks, Knete, der Mini-Sand-Malkasten, Kuscheltiere, Puzzles, Bauklötze, Spiele und vieles mehr.
Hessisches Modellprojekt
Die Kita für Kinder beruflich Reisender ist ein Projekt des hessischen Sozialministeriums und der gemeinnützigen Evim Bildung GmbH mit Sitz in Wiesbaden. Die gGmbH ist eine Tochter von Evim, dem Evangelischen Verein für Innere Mission in Nassau. Das Modellprojekt ist bis September 2023 befristet.
Finanziert wir das Kita-Mobil vom Sozialministerium, der Diakonie, aus Mitteln der Glücksspirale und aus Eigenmitteln von Evim. Für die Familien ist das Angebot kostenlos.
Auch die Schule für Kinder beruflich Reisender wird von der Evim Bildung gGmbH getragen. Beide Projekte kooperieren eng miteinander.
Weitere Informationen und Kontakt gibt es unter evim-bildung.de pgh
Die leise, aber unaufhörlich im Hintergrund wummernde Standheizung sorgt dafür, dass auch an einem kühlen Wintertag die Finger nicht einfrieren. Im Sommer muss es genügen, dass die hochklappbaren Kunststofffenster offen stehen und die beiden Dachluken die warme Luft abziehen lassen. Eine Klimaanlage zur Kühlung gibt es nicht. „Aber im Sommer und überhaupt bei schönem Wetter gehen wir auch häufig raus vor die Tür und spielen und arbeiten dort mit den Kindern“, sagt Roth.
Für John sind die zweimal zwei Stunden Kita pro Woche eine willkommene Abwechslung vom Zirkusalltag im Mühlheimer Winterquartier, wo rund ein Dutzend der blauen Wagen des Circus Alberti ihren Platz neben der Willy-Brandt-Halle gefunden haben.
Kamel und Kaninchen sind gefüttert
Allzuviel gibt es aktuell nicht zu tun. Das große Zelt, in dem die Vorstellungen stattfinden und in dem John im Weihnachtsprogramm seine eigene Jonglage-Nummer gezeigt hat, ist gut verstaut. Auch die Tiere – Friesen-Pferde, Kamele, Esel, Hund und Kaninchen – sind schon gefüttert. Johns beide Geschwister besuchen die Schule für die Kinder beruflich Reisender. Und dass er im Sommer auch dorthin wechseln wird, macht ihn sichtlich stolz.
Wie in anderen Kitas auch wird die Entwicklung der Kinder akribisch in einem Portfolio dokumentiert. Nach Möglichkeit führen die beiden Sozialpädagoginnen regelmäßig ein Entwicklungsgespräch mit den Eltern. „Wir haben zwar nur vier Stunden Kontakt in der Woche“, sagt Saup. Der sei dafür aber besonders intensiv, die Fortschritte von Kindern wie etwa John ziemlich groß.
Jonglieren für Anfängerinnen
Gut 30 Jungen und Mädchen gehören zu den „Stammkindern“, die über einen längeren Zeitraum hinweg zweimal wöchentlich besucht werden. Andere, etwa von durchreisenden Attraktionen wie einer „Monster-Truck-Show“ oder einem „Hüpfburgen-Paradies“, sind nur sporadisch zu Gast. Insgesamt hat das Mobil, seit es hessenweit auf Jungen und Mädchen gegangen ist, rund 80 Kinder erreicht. Demnächst soll noch ein drittes Mobil auf Tour gehen. „John ist jedenfalls prima auf die erste Klasse vorbereitet“, sind Jana Roth und Theresa Saup überzeugt.
Gegen Ende der beiden Stunden gibt es dann auch für Theresa Saup noch eine Lektion. John zeigt ihr, wie sie die drei grünen Gummibälle gleichzeitig in der Luft halten kann. Wenn sie das beherrschen will, bis John im Sommer aus der Kita in die Schule wechselt, muss sie allerdings noch ein wenig üben. Für den Anfang müssen erst einmal zwei Bälle genügen. Gut, dass John sich als ein geduldiger Trainer erweist.

