Opferhilfe in Hessen: „Wir brauchen eine stärkere Sensibilisierung an allen Stellen“

Hessens neue Opferbeauftragte Daniela Birkenfeld wünscht sich mehr Empathie bei Polizei und Verwaltung. Ihre Rolle sieht sie als Kümmerin und Lotsin.
Daniela Birkenfeld empfängt die Frankfurter Rundschau in ihrem geräumigen Büro in der Frankfurter Innenstadt. Der erste Blick im Flur fällt auf das Foto ihres verstorbenen Vorgängers Helmut Fünfsinn, daneben brennt eine Kerze. Der erste Landesbeauftragte für Opfer von Terroranschlägen und schweren Gewalttaten habe große Fußspuren hinterlassen, sagt die 62-Jährige. Und den Notfallrucksack erfunden, den sie am Ende des Gesprächs auspackt.
Frau Birkenfeld, was haben Sie zuerst getan, als Sie Ihre neue Tätigkeit aufnahmen?
Ich habe sofort Treffen vor Ort vereinbart. Es ist mir sehr wichtig, so schnell wie möglich in persönlichen Kontakt zu kommen. Das ist etwas ganz anderes als das Studieren von Akten. In Volkmarsen war ich schon in meiner ersten Arbeitswoche vor Ostern. In Hanau, aus Rücksicht vor dem Ramadan, danach.
Wie gehen Sie in den Gesprächen vor?
Zunächst muss der Ort und der Zeitpunkt des Treffens mit Bedacht gewählt werden. Der erste Schritt ist, Vertrauen aufzubauen. Ich lasse die Menschen reden, damit meine ich ausreden. Im Gespräch nutze ich selbst eine klare, einfache Sprache; frage immer noch einmal nach, ob ich das mir Anvertraute richtig verstanden habe. Nach dem Gespräch notiere ich nicht nur die vorgetragenen Anliegen, sondern auch in welchem Umfeld und Atmosphäre das Gespräch stattfand.
Wie würden Sie Ihre Rolle beschreiben?
Ich bin Lotsin, Kümmerin, Netzwerkerin – verbinde die verschiedenen Zuständigen miteinander.
Wann haben Sie die Überlebenden und Opferangehörigen des Anschlags von Hanau getroffen?
Die Familien habe ich inzwischen zweimal treffen können. Das erste Mal war beim Bundeskanzler in Berlin, zusammen mit dem Bundesbeauftragten, das zweite Treffen fand ausgerechnet an dem Tag statt, als in Hanau zwei Kinder ermordet wurden und der Täter noch nicht gefasst war. Ich befürchtete, vielleicht kommt angesichts dieser Umstände niemand zu unserem Treffen, aus nachvollziehbaren Gründen. Aber jede Familie war vertreten, was mich sehr gefreut hat.
Wie haben Sie die Begegnungen erlebt?
Es waren gute Gespräche, in denen alle ihre individuelle Situation und ihre besonderen Anliegen geschildert haben. Bereits vor dieser Begegnung habe ich mich mit der Hanauer Stadtverwaltung ausgetauscht, vor allem mit Andreas Jäger, der als Opferbeauftragter der Stadt im Einsatz war. Danach habe ich den Hauptfriedhof mit den Ehrengräbern und der Gedenktafel mit den kurzen, aber sehr persönlichen Biografien der Ermordeten besucht. Sie waren alle mitten im Leben, Stützen für ihre Familien, voll integriert, richtige Hanauer eben. Ich traf einen der betroffenen Väter und hatte ein mich sehr berührendes Gespräch mit ihm. Er war selbst nach Deutschland geflüchtet. Als seine Kinder mal darüber nachdachten, in das Geburtsland ihrer Eltern zu gehen, habe er ihnen gesagt, sie sollten es nicht tun, denn hier seien sie sicher.
Welche Arbeitsaufträge haben Sie von dem Treffen mit allen Betroffenen mitgenommen?
Ein Ehepaar kam gerade zurück von einer Reha und berichtete, dass sie in einer Gesprächsgruppe mit Missbrauchsopfern gesessen haben. Aus den Schilderungen habe ich mitgenommen, dass es spezielle Reha-Angebote für Opfer von Terroranschlägen geben sollte. Ein anderer Betroffener ist nach dem Anschlag in Geldnot geraten und braucht eine Schuldnerberatung. Eine Familie benötigt Hilfe bei der Suche nach einer anderen Wohnung, eine andere bei der Finanzierung einer Therapie. Betroffene brauchen dauerhafte, umfassende Hilfe.
Im Untersuchungsausschuss des Landtags zum Anschlag von Hanau haben Opferangehörige unter anderem mangelnde Information, Empathie und Betreuung bemängelt, vor allem direkt nach den Attentaten. Welche Konsequenzen wollen Sie daraus ziehen?
Ich setze mich dafür ein, dass auch in Hessen feste Opferstaatsanwältinnen und -anwälte installiert werden. Sie wären in der Akutphase Ansprechpartner für die Polizei im Einsatzabschnitt „Betreuung“ und würden Listen zu Betroffenendaten koordinieren. Sie könnten alle Fragen von Betroffenen und Helfenden zu strafprozessualen Opferrechten beantworten und somit zu einem besseren Verständnis der Zivilgesellschaft beitragen.
Was muss sich aus Ihrer Sicht noch ändern?
ZUR PERSON
Daniela Birkenfeld wurde am 6. April 2022 zur ehrenamtlichen Beauftragten der hessischen Landesregierung für die Opfer von Terroranschlägen und schweren Gewalttaten berufen. Drei Tage später nahm die CDU-Politikerin ihre Arbeit in der Geschäftsstelle in Frankfurt auf.
Die Juristin tritt die Nachfolge von Helmut Fünfsinn an. Der erste Opferbeauftragte der Landesregierung war am 6. Februar im Alter von 67 Jahren gestorben.
Die ehemalige Stadträtin für Soziales, Senioren, Jugend und Recht der Stadt Frankfurt lehrt als Professorin an der früheren Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung.
Erreichbar ist die Hessische Opferbeauftragte unter der kostenfreien Telefonnummer 0800 / 00 102 19. jur
DIE TATEN
Das Amt des Opferbeauftragten gibt es offiziell seit 1. April 2020. Der ehemalige Generalstaatsanwalt Helmut Fünfsinn hatte seine Tätigkeit allerdings zwei Monate früher angetreten. Nach dem Terroranschlag von Hanau wollte er den Angehörigen zur Seite stehen. Nach seinem Tod wurde Daniela Birkenfeld als Nachfolgerin benannt.
Am 19. Februar 2020 hatte dort ein 43-Jähriger aus rassistischen Motiven Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtovic, Vili Viorel Paun, Fatih Saraçoglu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov erschossen. Danach tötete er seine Mutter und anschließend sich selbst. Fünf weitere Hanauer:innen wurden ebenfalls durch Schüsse verletzt. Insgesamt ist eine dreistellige Zahl von Menschen, darunter die Angehörigen der Opfer, von den Taten betroffen.
In Volkmarsen war ein Mann am 24. Februar 2020 in den Rosenmontagszug gefahren. Er verletzte mehr als 80 Menschen, darunter 26 Kinder, zum Teil lebensgefährlich. Ende vergangenen Jahres sprach ihn das Landgericht Kassen wegen 88-fachen Mordversuchs in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und in einem Fall wegen versuchten Mordes sowie des gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr schuldig. Er wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Zudem stellte das Gericht die besondere Schwere der Schuld und den Vorbehalt einer anschließenden Sicherungsverwahrung fest.
In Wächtersbach im Main-Kinzig-Kreis war Bilal M., damals 26-jähriger Familienvater aus Eritrea, am 22. Juli 2019 unterwegs von seinem Ausbildungszentrum nach Hause, als Roland K. aus seinem Auto auf ihn schoss und lebensgefährlich verletzte, nur wegen dessen Hautfarbe. M. musste notoperiert werden und kämpft nach wie vor mit den Folgen des Attentats. jur/gha
Wir brauchen eine stärkere Sensibilisierung an allen Stellen, egal ob bei der Polizei oder in der Verwaltung. Da besteht viel Nachholbedarf, wobei es auch um mehr Sprachsensibilität und weniger Amtsdeutsch geht. Zum Teil kommt es aus Unwissenheit zu grenzüberschreitendem Verhalten, zum Teil weil es an Empathie mangelt und nur die Gesetze im Vordergrund stehen.
Bei vielen Opfern – darunter dem aus Eritrea Geflüchteten Bilal M., der in Wächtersbach von einem Rassisten angeschossen wurde – ist der Weg zu dauerhafter finanzieller Unterstützung nach dem Opferentschädigungsgesetz sehr lang, bürokratisch und belastend. Sehen Sie hier Änderungsbedarf? Wenn ja, inwiefern?
Die Kritik daran, dass es zu lange dauert, bis Betroffene diese Hilfen erhalten, ist grundsätzlich richtig, auch wenn es teilweise nachvollziehbare Gründe für die Bearbeitungsdauer gibt. Die Vorgabe, Leistungen in der Regel alle zwei Jahre durch das Versorgungsamt zu prüfen, sollte ebenfalls überdacht werden. Denn kaum ist der erste positive Bescheid eingetroffen, steht schon die nächste Begutachtung an. Eine Verbesserung greift ab 2024 mit der Einführung des Sozialgesetzbuchs XIV, das das Entschädigungsrecht neu regelt. Für jede Betroffenenfamilie wird dann eine Fallmanagerin oder ein Fallmanager zur Bündelung der finanziellen Hilfen benannt werden.
Wer wendet sich an die Opferbeauftragte?
Ganz unterschiedlich: Manchmal habe ich das Gefühl, ich habe es mit der ganzen Welt zu tun. Vorhin rief eine Dame an, die Traumabewältigung in ukrainischer Sprache anbietet und nach Ansprechpartnern suchte. Über das Büro des Ministerpräsidenten kam der Kontakt zu einem Mann, der schon sehr lange auf seinen Entschädigungsbescheid wartete. Auch jede Familie hat individuelle Probleme. Unser Unterstützungsangebot ist auf Dauer angelegt.
Wie oft sind Sie in Ihrem Büro in Frankfurt?
Zur Arbeitszeit ist vereinbart: So viel wie nötig, mindestens 15 Stunden die Woche. Das muss nicht hier in Frankfurt sein. Mein Team konferiert häufig online. Die Opfer suche ich auf oder treffe sie an einem gewünschten Ort. Jemand, dessen Kind im öffentlichen Raum umgebracht wurde, möglicherweise sogar vor den Zug gestoßen wurde, von dem kann ich nicht erwarten, dass er jemals noch einen Bahnhof betritt.
Zwei Teilzeitkräfte, eine Vollzeitkraft und Sie. Ist das nicht wenig Personal für so viel Arbeit?
Das ist mehr als in den meisten anderen Bundesländern. Wir sind ja nicht alleine im Hilfesystem, sondern arbeiten vernetzt. Wir haben in Hessen acht Opferhilfevereine, vor Ort gibt es noch andere Unterstützungssysteme.
Wie würden Sie in der Akutphase handeln?
Einen runden Tisch mit allen ins Leben rufen, die vor Ort Verantwortung tragen oder tragen könnten. Dazu gehört etwa auch eine Initiative, die sich vielleicht gerade erst bildet. Als Sozialdezernentin habe ich gelernt, dass man nie ein Hilfsangebot von vornherein zurückweisen sollte. Initiativen bilden sich, weil Menschen sich kümmern wollen. Und nichts anderes wollen wir auch.
Wie ist Ihre Anbindung an die Landesregierung?
Als Ehrenamtliche bin ich niemandem unterstellt, damit ich die Opferinteressen weisungsfrei vertreten kann. Dazu gehört auch, Verbesserungsvorschläge zu machen.
Vor Ihnen liegt der Notfallrucksack, den Ihr Vorgänger Helmut Fünfsinn erfunden hat. Was ist der Inhalt?
Da ist alles drin, was wir im Ernstfall sofort brauchen: Eine To-do-Liste, wer welche Aufgaben übernimmt. Ein großer Stapel Visitenkarten mit der kostenlosen 24-Stunden-Notfalltelefonnummer, denn oft merken die Leute erst am nächsten Tag oder noch später, dass sie Hilfe brauchen. Wichtig ist auch die Karte mit Kontakten zur Unfallhilfe, die Ersthelferinnen und Ersthelfern unterstützen. Cracker, Wasser, Apfelsaft, jede Menge Taschentücher und Informationsbroschüren. Zum Glück habe ich ihn noch nicht gebraucht. Hoffentlich bleibt es dabei.
Interview: Gregor Haschnik und Jutta Rippegather