Lübcke-Ausschuss: Neonazi steht bis heute zu Stephan Ernst

Im Lübcke-Untersuchungsausschuss des hessischen Landtages sagen erstmals zwei Zeugen aus der Neonazi-Szene aus. Einer von ihnen will sich immer noch nicht vom Mörder Stephan Ernst distanzieren.
Im Untersuchungsausschuss des hessischen Landtages zum Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke haben am Mittwoch zum ersten Mal Zeugen aus der rechtsextremen Szene ausgesagt. Mittags befragten die Abgeordneten Mike S., der lange als zentrale Figur der militanten Kasseler Neonazi-Szene galt und sowohl den Mörder von Lübcke, Stephan Ernst, als auch dessen Weggefährten Markus H. seit langer Zeit kennt. H. war Ende Januar im Prozess zum Mord an Walter Lübcke vom Vorwurf der Beihilfe zu der Tat freigesprochen worden.
Mike S., der während der Befragung nervös und oft unaufrichtig wirkte, sagte aus, er habe Ernst im Jahr 2000 bei Stammtischen der rechtsextremen NPD kennengelernt. Er selbst sei damals bei deren Jugendorganisation „Junge Nationaldemokraten“ (JN) aktiv gewesen, sagte der 40-Jährige. Er sei bundesweit, teils jedes Wochenende, mit Ernst zu Demonstrationen der rechten Szene gefahren. Er habe Ernst als diszipliniert, ruhig und zurückhaltend erlebt, so S. Ernst sei im Gegensatz zu ihm selbst generell „gegen Ausländer“ gewesen, er selbst habe nur ein Problem mit „Überfremdung“.
Facebook-Eintrag
Auf Nachfrage bestätigte S, dass er sich nach Ernsts Verhaftung im Juli 2019 in einem Facebook-Eintrag mit ihm solidarisiert habe. S. hatte ein Foto von sich mit Ernst gepostet und dazu geschrieben, er stehe „in guten und in schlechten Zeiten zum Kamerad Ernst“. Es habe ihn gestört, dass sich die NPD von Ernst distanziert habe, so S. Er selbst habe Ernst den Mord nicht zugetraut. „Da hab ich gedacht, ich muss mich hinter ihn stellen“, so Mike S. „Sehe ich auch heute noch so.“ Sein Kontakt zu Ernst sei in den Jahren 2009 oder 2010 „eingeschlafen“, so S. weiter. Er habe den Eindruck gehabt, dass Markus H. seine Freundschaft mit Ernst hintertreibe. Einmal habe Ernst ihn auch besucht und ihm erzählt, dass Markus H. Ernst vor ihm gewarnt habe – er solle „vorsichtig sein“.
Markus H. habe er 2004 oder 2005 auf dem Flohmarkt kennengelernt, er sei dann „das Verbindungsglied“ zwischen H., Ernst und der rechten Szene gewesen, schilderte S. Er habe H. aber nie leiden können. H. sei ein „Redner“ und „Aufwiegler“ gewesen, der immer viele Ideen geäußert, sich dann aber „aus der Affäre gezogen“ und nie selbst etwas umgesetzt habe.
Kontakt mit Ex-Verfassungsschützer Andreas Temme
Der Zeuge aus der Naziszene berichtete außerdem, dass er Kontakt mit Andreas Temme gehabt habe. Temme war Beamter des hessischen Verfassungsschutzes gewesen. Weil er beim Mord der rechtsextremen Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) an Halit Yozgat in Kassel 2006 am Tatort war oder diesen Sekunden zuvor verlassen hatte, war er zeitweilig unter Mordverdacht geraten.
S. bestätigte, dass Temme bei ihm in den Jahren 2009 oder 2010 vor der Tür gestanden habe, nachdem er ein Landserbild über ein Kleinanzeigenportal angeboten habe. Er habe den Mann hereingelassen, obwohl er ihn nicht gekannt habe. Später habe er herausgefunden, dass es sich um den ehemaligen V-Mann-Führer Temme handelte, berichtete S.
„Ungeheuerlicher Vorgang“
Der hessische SPD-Fraktionschef Günter Rudolph, der Obmann seiner Fraktion in dem Ausschuss ist, nannte es „einen ungeheuerlichen Vorgang“, dass ein ehemaliger Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, der danach weiterhin im Dienst des Landes stand, „bei einem Rechtsextremen Militaria kauft und persönlich abholt“. Innenminister Peter Beuth (CDU) müsse „nun ohne Zeitverzug erklären, ob dem Verfassungsschutz und anderen Sicherheitsbehörden die Umtriebe des Herrn Temme jemals aufgefallen sind und welche Schlüsse daraus gezogen wurden“.
Der zweite Zeuge des Tages, der frühere Neonazi Alexander S., war weit weniger auskunftsfreudig. Widerstrebend gab der 31-jährige Softwareentwickler zu, dass er sich mit Markus H. in seiner aktiven Zeit in der Neonazi-Szene angefreundet und auch einmal mit ihm Urlaub gemacht habe. Stephan Ernst habe er nur wenige Male gesehen, als dieser mit ihm und H. zusammen AfD-Demonstrationen in Erfurt und Chemnitz besucht habe.
Auf Nachfrage räumte S. ein, Markus H. im Jahr 2009 75 Euro überwiesen zu haben – mit dem Verwendungszweck „Geldjude“. Damals sei das für ihn eine übliche Ausdrucksweise gewesen, so S. Er finde das heute selber „abstoßend“.