Kriminologe Singelnstein fordert nach rechtsextremen Vorfällen bei der Polizei: „Vorgesetzte müssen einschreiten“

Der Kriminologe Tobias Singelnstein spricht im FR-Interview über rechtsextreme Einstellungen in der Polizei und den Einfluss der AfD.
Mehrfach sind Chatgruppen bei der hessischen Polizei aufgeflogen, in denen rechtsextreme Inhalte ausgetauscht wurden. Zuletzt berichtete die FR am Samstag über eine solche Gruppe beim Polizeipräsidium Darmstadt.
Am Montag meldete die Frankfurter Staatsanwaltschaft, dass sie Anklage gegen fünf Polizeibedienstete aus Frankfurt erhoben habe. Der Frankfurter Kriminologe Tobias Singelnstein befasst sich seit Jahren mit solchen Phänomenen.
Herr Singelnstein, wie verbreitet sind rechtsextreme Einstellungen in der Polizei?
Das ist eine gute Frage, die wir leider nicht genau beantworten können, weil wir dazu zu wenige Untersuchungen haben. Es gibt eine ganze Bandbreite von Phänomenen, von den Chatgruppen bis zu Netzwerken wie „Nordkreuz“ oder „Hannibal“. Das ist aber nur das Hellfeld, also Fälle, die wir kennen. Was im Dunkelfeld stattfindet, wissen wir nicht.
Gibt es Erkenntnisse darüber, was im Verborgenen passiert?
Es gibt eine Reihe von Untersuchungen, die in den 90er Jahren entstanden sind, als wir schon einmal eine ähnliche Diskussion hatten. Ausgehend davon kann man ganz grob die Größenordnung einschätzen. Es gibt eine Gruppe von Polizeibeamt:innen mit einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild. Man muss davon ausgehen, dass das zwischen fünf und fünfzehn Prozent sind. Darüber hinaus gibt es eine noch größere Gruppe, die einzelne Versatzstücke dieser Ideologie befürwortet. Die Frage ist, ob das Phänomen in der Polizei so groß ist wie in der Gesellschaft oder sogar noch größer.
Was ist das für eine Kultur, in der angeklebte Hitlerbärte und eine Ortsbezeichnung als „Wolfsschanze“ gedeihen können?
Die Bandbreite ist groß. Es kann als makabrer Scherz gemeint sein. Es kann genauso gut auch Ausdruck einer gefestigten rechtsextremen Gesinnung sein. Um das beantworten zu können, muss man tiefer schürfen.
Sie beschäftigen sich in Ihrem Buch „Die Polizei“ mit autoritären Strukturen und dem Einsatz von Gewalt als Merkmalen der Polizei. Inwieweit beeinflusst das die Einstellungen?
Zur Person
Tobias Singelnstein ist Rechtswissenschaftler und Kriminologe. Der 45-jährige Wissenschaftler trat in diesem Monat seine Professur an der Frankfurter Goethe-Universität an. Bisher lehrte er an der Ruhr-Universität Bochum, unter anderem als Leiter der Studie „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt:innen“.
Das Buch „Die Polizei. Helfer, Gegner, Staatsgewalt“ hat Singelnstein in diesem Jahr gemeinsam mit Benjamin Derin im Econ-Verlag veröffentlicht.
Es gibt zwei Thesen, wie Rechtsextremismus in die Polizei kommt. Zum einen die Rekrutierungsthese, dass sich Menschen von der Polizei angezogen fühlen, die solche problematischen Einstellungen schon mitbringen. Zum anderen die Sozialisationsthese, dass sich das im Laufe der Zeit herausbildet. Vermutlich ist an beidem etwas dran. Man muss sehen, dass es in der Polizei Dinge gibt, die einen bestimmten Autoritarismus fördern können: Es ist eine hierarchische Organisation, die mit Machtausübung zu tun hat. Es gibt bestimmte Formen des Gewalteinsatzes. Es gibt ein bestimmtes Männlichkeitsbild, das in der Polizei kultiviert wird. Das sind Merkmale, die auch im Rechtsextremismus zu finden sind. Das heißt nicht, dass die Polizei insgesamt eine Affinität zur extremen Rechten haben muss. Aber es besteht die Gefahr. Dem muss die Organisation entgegenarbeiten.
Wie kann sie das tun?
Viel diskutiert wird im Augenblick, dass man genauer hinschaut, wer eingestellt wird. Auch bei Aus- und Fortbildung kann man noch eine Schippe drauf legen. Am Ende ist die Frage, wie in der Organisation damit umgegangen wird. Wir sehen viele Fälle, in denen nachher gesagt wird, die rechtsextremen Vorfälle seien vorher nicht erkennbar gewesen. Das ist schwer zu glauben, wenn man die Polizei ein bisschen kennt. Solche Vorurteile, solche Einstellungen bleiben in der Regel nicht unter der Decke. Da kommt es darauf an, dass die Kolleginnen und Kollegen eine klare Grenze ziehen. Das ist insbesondere eine Aufgabe für die Führung. Die unmittelbaren Vorgesetzten müssen bei solchen Äußerungen einschreiten. Tun sie das nicht, besteht die Gefahr, dass die ganze Gruppe abdriftet – so, wie wir das in den vergangenen Jahren in verschiedenen Fällen gesehen haben.
Zum Beispiel beim Spezialeinsatzkommando in Frankfurt, das der hessische Innenminister Peter Beuth aufgelöst hat.
Bei solchen Spezialeinheiten ist es noch mal ein größeres Problem, weil sie abgeschottet sind und sich als Elite verstehen. Das sind Strukturen, in denen sich eine spezifische Kultur und problematische Einstellungen stärker etablieren können.
Welche Rolle spielt der Einfluss der AfD?
Das ist eine ganz besondere Herausforderung für die Polizei. Wir sehen, dass die Partei sich sehr um Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte bemüht. Nach allem, was man aus der Organisation hört, muss man davon ausgehen, dass diese Bestrebungen durchaus erfolgreich sind.
In Hessen sind mehrere rechte Chats und andere Vorfälle bekanntgeworden. Hat Hessen ein besonderes Polizeiproblem?
Das Problem besteht im Grunde in allen Bundesländern. Aber man muss sehen, dass die Polizeikulturen in den Bundesländern unterschiedlich ausgeprägt sind. Polizei ist Ländersache, da haben sich über die Jahrzehnte länderspezifische Kulturen ausgebildet. Daher ist es auch plausibel, dass das Problem in manchen Bundesländern größer ist als in anderen. (Interview: Pitt von Bebenburg)