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Jahresrückblick
Illegale Abfragen und rechte Drohungen
- vonPitt v. Bebenburgschließen
Was geschah von Juli bis September 2020? Die Schulen sind im Regelbetrieb, es gibt Randale in der Frankfurter Innenstadt und Hessens Innenminister Peter Beuth gerät im „NSU 2.0“-Skandal unter Druck.
Am 4. Juli 2020 ereignet sich Ungewöhnliches im hessischen Landtag. Bevor die Sondersitzung beginnt, geht Innenminister Peter Beuth (CDU) hinüber zu einer seiner härtesten Kritikerinnen, der Linken-Fraktionsvorsitzenden Janine Wissler, um ihr seine Unterstützung zu bekunden. Am selben Tag veröffentlichen die Fraktionschefs und -chefinnen von CDU und Grünen gemeinsam mit jenen von SPD und FDP eine Stellungnahme. „Die Drohungen gegen unsere Kollegin Janine Wissler sind abscheulich und widerwärtig“, heißt es darin. „Wer Abgeordnete mit dem Tod bedroht, greift uns alle an.“
Eigentlich soll es an diesem Tag im Parlament um die Bewältigung der Corona-Krise und das umstrittene „Sondervermögen“ der Landesregierung gehen. Doch eine Nachricht überschattet die Debatte: Linken-Politikerin Wissler wird von Rechtsextremisten mit dem Tode bedroht, die das Kürzel „NSU 2.0“ benutzen, in Anlehnung an die rechte Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU). Seit Februar erhält sie Drohungen, wie die Frankfurter Rundschau an diesem Morgen berichtet hat.
Doch das ist nicht alles. Die unbekannten Absender nutzen persönliche Daten Wisslers, um ihren Drohungen Nachdruck zu verleihen. Wenige Tage später kommt erneut durch einen Bericht der FR heraus, dass solche Daten von einem hessischen Polizeicomputer abgefragt worden sind. Der ungeheuerliche Verdacht: Hessische Polizisten, die das Recht und das Leben der Menschen schützen sollen, könnten mit der widerwärtigen Drohung zu tun haben.
Erinnerungen werden wach. Seit August 2018 wird die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz von „NSU 2.0“ bedroht und auch in ihrem Fall wurden persönliche Daten über sie und ihre Familie von einem hessischen Polizeicomputer abgefragt.
Mitte Juli kommt eine weitere Betroffene hinzu. Die Frankfurter Rundschau deckt jetzt auf, dass die Kabarettistin Idil Baydar Todesdrohungen von „NSU 2.0“ erhalten hat und auch in ihrem Fall vorher Daten von einem hessischen Polizeicomputer abgefragt worden waren. Innenminister Peter Beuth (CDU) will all das auch gerade erst erfahren haben. Obwohl der Computerabruf im Fall Wissler von Februar 2020 stammt und der im Fall Baydar sogar von März 2019. Hat ihm seine eigene Polizei nichts davon berichtet?
Weitere „NSU 2.0“-Drohmails erreichen die Kolumnistin Hengameh Yaghoobifarah sowie die Linken-Politikerinnen Martina Renner aus Thüringen und Anne Helm aus Berlin. Auch bei ihnen werden geschützte persönliche Daten verwendet, die teilweise von Polizeicomputern in Hamburg und Berlin abgerufen worden waren. Die betroffenen Frauen gehen aber davon aus, dass Angaben auch aus anderen Quellen stammen. „Da werden Personen verfolgt und ausgespäht“, sagt die Linken-Bundestagsabgeordnete Martina Renner.
Der Skandal schlägt hohe Wellen. Beuth macht erst dem Landeskriminalamt (LKA) Vorwürfe, das sein Ministerium nicht zügig unterrichtet habe. Doch die FR findet heraus, dass das LKA das Landespolizeipräsidium, das seinen Sitz im Ministerium hat, weit früher über die Polizeiabfragen informiert hatte als vom Innenminister angegeben. Beuth wirft daraufhin seinen Landespolizeipräsidenten Udo Münch raus und ersetzt ihn durch Roland Ullmann. Wissler spricht von einem „Bauernopfer“ und betont: „Wir wollen Aufklärung, strukturelle Veränderung und nicht einfach ein Austauschen von Köpfen.“
Minister Beuth setzt auch einen Sonderermittler ein, der allerdings ebenfalls aus der hessischen Polizei kommt und dessen Befugnisse unklar bleiben. Das Land bestellt zudem eine Expertenkommission, die der Polizei ein Leitbild erarbeiten soll. Und er ändert endlich die Regeln für Abfragen von Polizeicomputern – fast zwei Jahre nachdem die illegale Abfrage im Fall Basay-Yildiz bekannt wurde.
Heute, Ende 2020, erhalten die bedrohten Frauen weiterhin Drohungen. Gefasst sind weder der oder die Absender der Drohschreiben noch die Polizist:innen, die persönliche Daten der Betroffenen zugeliefert haben.
Basay-Yildiz lobt eine Belohnung von 5000 Euro aus, um Hinweise auf die Täter zu erhalten. Im FR-Interview stellt sie fest: „Das Ganze war ein Trauerspiel und zutiefst beschämend für die Institution Polizei. Ich bin jetzt an einem Punkt, wo ich mir langsam selbst helfen muss.“