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Hessen: Verheerende Zustände beim Verfassungsschutz

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Von: Hanning Voigts

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Im Ausschuss erklärte der Zeuge, er habe die Zustände im hessischen Verfassungsschutz „nicht für möglich gehalten“. Foto: dpa
Der Mordfall Walter Lübcke zeigt, wie schlimm die Zustände im hessischen Verfassungsschutz sein müssen. © dpa

Im Lübcke-Untersuchungsausschuss kritisiert der frühere Verfassungsschutz-Präsident seine Behörde. Er habe dort verkrustete Strukturen und schlecht ausgebildetes Personal vorgefunden.

Wiesbaden - Schlechte Ausrüstung, verkrustete Strukturen und eine Analysefähigkeit, die zu wünschen übrig ließ: Alexander Eisvogel, ehemaliger Präsident des hessischen Landesamts für Verfassungsschutz (LfV), hat der Behörde am Mittwoch im Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags zum Mordfall Walter Lübcke rückblickend ein verheerendes Zeugnis ausgestellt.

Als er 2006 vom damaligen hessischen Innenminister Volker Bouffier (CDU) aus dem Bundesamt für Verfassungsschutz nach Wiesbaden geholt worden sei, habe er schlechtes Aktenmanagement und teils kaum ausgebildetes Personal vorgefunden, sagte der 56-jährige Jurist, der damals als Islamismusexperte galt. „Die Ausstattung war absurd“, sagte Eisvogel in Bezug auf nur zwei kleine Teams, die ihm zur Beobachtung gefährlicher Extremist:innen zur Verfügung gestanden hätten. „Das hätte ich nicht für möglich gehalten.“

Eisvogel, der das LfV bis zum April 2010 geleitet hatte und heute Präsident der Bundesakademie für öffentliche Verwaltung ist, war vom Untersuchungsausschuss geladen worden, weil er erkannt hatte, wie gefährlich der Kasseler Neonazi Stephan Ernst war. Ernst hatte im Juni 2019 den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) ermordet.

Lübcke-Untersuchungsausschuss in Hessen: Frühe Warnung vor Rechtsextremismus

Auf einem internen Lagebild zur rechtsextremen Szene in Nordhessen vom Oktober 2009 hatte Eisvogel handschriftlich vermerkt, dass der vorbestrafte Neonazi „ein brandgefährlicher Mann“ sei. Trotzdem war Ernst 2010 vom Radar des Geheimdiensts verschwunden und seine Akte 2015 für den Dienstgebrauch gesperrt worden.

Anhänger einer rechtsextremen Kleinstpartei bei einer Demonstration in Kassel.
Rechtsextremismus wurde laut Alexander Eisvogel lange verharmlost. (Symbolbild) © Swen Pförtner/dpa

Den Abgeordneten im Ausschuss erklärte Eisvogel selbstkritisch, er habe sich zu Beginn seiner Zeit im LfV stark auf den islamistischen Terrorismus konzentriert. Erst 2007 habe er begriffen, wie brisant die Lage beim Rechtsextremismus gerade in Nordhessen gewesen sei, wo die Szene enge Kontakte zur Neonaziszene in Thüringen gehabt habe. Daraufhin habe er verlangt, „dass mir Lagebilder vorgelegt werden, und zwar ehrliche Lagebilder“, sagte Eisvogel. Dabei habe sich herausgestellt, dass die Quellenlage unbefriedigend und die Außenstelle in Kassel „kein Ruhmesblatt“ gewesen sei.

Dennoch habe im Amt absolute Einigkeit geherrscht, dass Stephan Ernst als „gewalttätig und fremdenfeindlich“ einzuschätzen sei – keine Führungsfigur der Neonaziszene, dafür „einer, der sich nicht unter Kontrolle hat“. Als „brandgefährlich“ habe er Ernst wohl deshalb bezeichnet, weil dieser unter anderem einen Brandanschlag auf eine Asylunterkunft verübt hatte.

Rechtsextremismus oft langlebig: Eisvogel teilt Einschätzungen im Lübcke-Untersuchungsausschuss

Der Einschätzung, Stephan Ernst sei nach 2009 durch die Gründung einer Familie „abgekühlt“ und deshalb vom Radar verschwunden, erteilte Eisvogel eine klare Absage. „Rechtsextremisten kühlen in der Regel nicht so einfach ab“, formulierte der Jurist. Neonazis seien durch „negative Gefühlswelten“ und rassistischen Hass getrieben.

Solch ein tiefsitzender Hass bleibt, auch wenn man danach Kinder zeugt und Häuser baut.

Alexander Eisvogel, ehemaliger Präsident des hessischen Landesamts für Verfassungsschutz (LfV), als Aussage beim Lücke-Untersuchungsausschuss in Wiesbaden.

Eigene Kinder könnten Rechtsextreme sogar noch weiter radikalisieren, wenn diese das Gefühl hätten, ihren Nachwuchs etwa vor einer vermeintlichen „Überfremdung“ schützen zu müssen, so Eisvogel. Das Auffliegen des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) habe zudem belegt, dass Neonazis sich auch strategisch aus der Szene zurückzögen.

Unterschätzung von Rechtsextremismus: Kritik an bundesweiter Aufarbeitung

In Bezug auf den NSU und rechte Terrorkonzepte hätten Polizei und Verfassungsschutz bundesweit versagt, sagte Eisvogel. Man habe Neonazis zu oft als betrunkene Gewalttäter betrachtet, die nicht taktisch dächten. „Wir waren nicht offen, wir waren nicht flexibel, wir waren nicht agil genug im Kopf.“

In Bezug auf die Sperrung von Akten berichtete Eisvogel, diese sei leider oft „sehr nach Schema F“ vorgenommen worden. Die Gesetze sähen vor, dass nach spätestens fünf Jahren geprüft werde, ob bekannte Extremist:innen noch gefährlich seien. Anstatt diese Frage anhand neuer Recherchen zu prüfen, sei diese Frage im LfV Hessen häufig nur nach Aktenlage beantwortet worden.

Überhaupt sei in der Behörde nicht überall so gearbeitet worden, „wie ich mir das vorgestellt habe“, sagte Eisvogel. Viele hätten das LfV als „Insel“ begriffen und ihre Informationen zum Beispiel nur ungern mit anderen Behörden geteilt. (Hanning Voigts)

Auch in der Polizei kommt es immer wieder zu rechtsextremistischen Vorfällen. Laut einem neuen Lagebericht geht man schätzungsweise von bis zu 300 Fällen letztes Jahr aus.

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