Hessen sucht die ideale Notfallversorgung

Drei Landkreise testen die enge Verzahnung der Arztpraxen mit Krankenhäusern. Ein Modell, das bundesweit Schule machen könnte.
Die stark blutende Schnittwunde, die mit ein paar Stichen genäht werden kann. Der höllisch schmerzende verklemmte Halswirbel, der wieder eingerenkt werden muss: Immer häufiger rufen Menschen die 112 ein, ohne dass der Rettungswageneinsatz wirklich notwendig wäre. Dessen Besatzung ist grundsätzlich verpflichtet, den Patienten oder die Patientin ins Krankenhaus zu bringen. Das bindet Ressourcen für Schwerstkranke, ist unwirtschaftlich und auch nicht die bestmögliche Versorgung. Eine Arztpraxis wäre unter der Rufnummer 116 117 zu finden und die bessere Adresse.
In einem Modellprojekt wollen Ärzteschaft, Krankenhäuser und Krankenkassen ausprobieren, wie eine bessere Steuerung zu realisieren ist. Nach langwierigen Verhandlungen sind die rechtlichen und finanziellen Hürden jetzt beseitigt. Am Mittwoch gab Hessens Sozialminister Kai Klose (Grüne) in Frankfurt den Startschuss. Mit dabei sind auch Vertreter der Landkreise Main-Kinzig, Gießen und Main-Taunus, die die Rolle der Piloten übernehmen. Die Erfahrungen sammeln mit dem „bundesweit einzigartigen“ Verfahren, das sich als Blaupause für die gesamte Republik eignen soll. „Es bringt die Patient:innen schnell an die richtige Stelle“, so Klose.
Partnerpraxen einbinden
Konkret läuft das so: Bei schweren oder unübersichtlichen Fällen ist die nächste Klinik weiterhin die erste Adresse. Bei leichteren Notfällen hilft eine spezielle Software bei der Einschätzung, ob eine der 75 sogenannten Partnerpraxen in den drei Landkreisen die bessere Adresse wäre. Bedingung: Sie eignen sich fachlich und haben Kapazitäten. Abfragen kann der Rettungsdienst dies über Ivena. Ein in Hessen entwickeltes Online-Tool, das die jeweils freien Kapazitäten von Krankenhäusern zeigt samt deren jeweiligen medizinischen Fachbereichen. Der ambulante Sektor kommt nun hinzu. „Mit dem Pilotprojekt bringen wir Ivena in die Praxen und geben den Zentralen Leitstellen einen Echtzeitüberblick über die Verfügbarkeit und die Leistungsfähigkeit“, sagte Eckard Starke, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der hessischen Kassenärzte.
Seit Jahren dränge er auf die Verzahnung der ambulanten und stationären Versorgung. Das Gesundheitssystem sei zu komplex, um es als Laie zu verstehen, sagte Landesärztekammerpräsident Edgar Pinkowski. „In Hessen muss die Notfallversorgung verbessert werden.“ Diese Hoffnung verbinden auch die Krankenkassen mit dem auf zwei Jahre angelegten Pilotprojekt, das nach Ansicht der AOK-Vorständin Isabella Erb-Herrmann „fast revolutionär“ ist. Die Versorungsqualität steige, und die Kliniken hätten mehr Zeit, sich um die wirklich schweren Fälle zu kümmern.
Das hofft auch der Direktor der Hessischen Krankenhausgesellschaft, Steffen Gramminger. Wie er einräumte, werde das Problem der banalen Fälle, wenn Patient:innen zu Fuß ins Krankenhaus kommen, bei dem Projekt nicht gelöst. „Wir können die nicht einfach wegschicken.“ Am Klinikum in Frankfurt-Höchst gibt es seit vier Jahren zumindest einen gemeinsamen Tresen, an dem der Bereitschaftsdienst der Kassenärzte beteiligt ist. Ein erfolgreicher Ansatz, der immer noch der Ausweitung in die Fläche harre, merkte die gesundheitspolitische Sprecherin der Linken im Landtag, Christiane Böhm, an.
Das jetzt vorgestellte Vorhaben in den drei Landkreisen verfolge den richtigen Ansatz. „Allerdings handelt es sich – wie so oft – mal wieder nur um ein befristetes Projekt statt um eine wirklich zukunftsweisende Reform.“ Wie in Höchst drohe auch hier viel Leerlauf bis zu einer Umsetzung. „Obwohl der ‚Gemeinsame Tresen‘ als Projekt erfolgreich gelaufen ist und sogar im Koalitionsvertrag verankert wurde, kann von einem flächendeckenden Ausbau bis heute nicht die Rede sein.“