Hessen: Schnupfen ist kein Notfall

Weit mehr als die Hälfte der Rettungdiensteinsätze in Hessen sind Bagatellen. Eine Reform ist geplant und es gibt ein Modellprojekt.
Immer häufiger wählen Menschen die Notrufnummer 112, obwohl sie in der Hausarztpraxis oder beim Ärztlichen Bereitschaftdienst besser aufgehoben wären: Mehr als 86 000 Mal wurden hessische Rettungsdienste im vergangenen Jahr wegen solcher Bagatellfällen in Anspruch genommen. Das waren sogar knapp 20 000 Einsätze mehr als für lebensbedrohliche Notfälle, für die sie tatsächlich zuständig sind.
Wertvolle Ressourcen
Die Folgen des Missbrauchs sind gravierend, sagt Sozialminister Kai Klose (Grüne). „Durch diese Notrufe und die damit verbundenen Einsätze werden die Zentralen Leitstellen, die Rettungsdienste und die Notaufnahmen der Kliniken in Hessen unnötig zusätzlich belastet und so wertvolle Ressourcen gebunden, die für lebensbedrohliche Situationen dringender benötigt werden.“ Die Rettungdienst-Besatzung ist gesetzlich verpflichtet, Betroffene in ein Krankenhaus zu bringen.
Das Problem der Fehleinsätze ist ein Dauerbrenner. Es gewinnt zunehmend an Relevanz, weil die Einsätze generell steigen, was Rettungsdienste immer häufiger an ihre Kapazitätsgrenzen bringt. Die im Hause von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) geplante Klinikreform schlägt „Integrierte Notfallzentren“ vor. Angedockt werde sie an den rund 420 Krankenhäusern der erweiterten und umfassenden Notfallversorgung in Deutschland. Die Besetzung soll aus jeweils einer Notaufnahme eines Krankenhauses sowie einer Notfallpraxis niedergelassener Ärztinnen und Ärzte bestehen. Der hessische Hausärzteverband fordert in einer Resolution stattdessen eine Stärkung der hausärztlich-zentrierten Versorgung. Sinnvoller sei, auf bestehende Strukturen zu setzen – etwa die Sektorenübergreifende ambulante Notfallversorgung (SaN).
Eine Debatte, die einen neuen Schub bringen könnte in das deutschlandweite Modellprojekt, das durch Corona „ein bisschen Schwung verloren“ hat, wie es Karl Roth formuliert, Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Hessen. Exakt vor einem Jahr war das „SaN“ offiziell gestartet. Ärzteschaft, Krankenhäuser und Krankenkassen probieren dabei aus, wie Patientinnen und Patienten dank einer besseren Steuerung schneller an der richtigen Stelle landen. Vorausgegangen waren langwierige Verhandlungen, um die rechtlichen und finanziellen Hürden zu beseitigen. Dabei sind auch Verantwortliche der drei Pilot-Landkreise Main-Kinzig, Gießen und Main-Taunus. In Hessen ist die Trägerschaft des Rettungsdiensts Sache der Kommune.
Hilfe
Die Notrufnummer 112 ist europaweit zuständig für lebensgefährlichen Situationen, wenn sich eine Mensch einer akuten Notlage befindet und sofort Hilfe braucht.
Patient:innen mit minderdringlichen Beschwerden sollten sich eigenständig zum Hausarzt begeben oder fahren lassen.
Die Nummer 116 117 ist die des Ärztliuchen Bereitschaftsdienstes. Sie ist für die Zeit da, wenn die Hausarztpraxis geschlossen ist. Wer anruft, kann mit einem Arzt sprechen, die Beschwerden schildern und die weitere medizinische Versorgung beraten. jur
Bei schweren oder unübersichtlichen Fällen ist die nächste Klinik weiterhin die erste Adresse. Bei leichteren Notfällen hilft eine spezielle Software bei der Einschätzung, ob eine der 75 sogenannten Partnerpraxen in den drei Landkreisen die bessere Adresse wäre. Sie muss sich fachlich eignen und über Kapazitäten verfügen. Abfragen kann der Rettungsdienst dies über das Online-Tool Ivena. Es wird um den ambulanten Sektor erweitert – kein einfaches Unterfangen. Ivena wurde in Hessen entwickelt, um einen Überblick über die freien Kapazitäten von Krankenhäusern samt deren jeweiligen medizinischen Fachbereichen zu bieten.
Ausbau der Telemedizin notwendig
Die „SaN“-Struktur kommt nach Meinung von Minister Klose den Vorschlägen des Bundesgesundheitsministeriums nahe. Doch sie sind noch nicht reif genug, um in die Regelversorgung überführt zu werden. Schnittstellen müssten geschaffen, die technische und telemedizinische Vernetzung ausgebaut werden. Noch in diesem Jahr sollen weitere Regionen hinzukommen und zwar explizit solche, die nicht ländlich geprägt sind, sagt der KV-Sprecher. Laut Sozialministerium ist das noch nicht beschlossen. Zunächst stünde eine Evaluation an. Die KV fordert zudem, dass die Krankenkassen sich stärker als bisher an den Kosten beteiligen müssten. Durch die reduzierten Klinikeinweisungen sparten sie Geld. Das könnten sie an die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte weitergeben.